Feinfühlig beschriebene Lebensbilder

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matheelfe Avatar

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„...Es ist die Liebe, die einen am Ufer stehen lässt, wenn der andere in See sticht, auch dann, wenn man nicht wissen kann, ob er zurückkommen wird...“

Lew Bergmann, 37 Jahre alt, ist im falschen Ort in Indien gestrandet. Er ist auf dem Weg zu seinem Vater. Seine Eltern hatten ihn und seinen Bruder vor 28 Jahren verlassen. Nun erreichte Lew die Todesnachricht seiner Mutter.
In einer kleinen süddeutschen Stadt arbeitet Ira in einer Bäckerei. Evi, die Besitzerin, hat ihr ein Nest gebaut, als sie schwanger war.
Im Hause gegenüber liegt Cornelius, Iras Vater, im Sterben. Sie besucht ihn täglich. Doch Cornelius kann noch nicht gehen, denn seine Erinnerungen fesseln ihn an die Zeit.
Die Autorin verknüpft mehrere Lebensgeschichten zu einem emotional bewegenden und tiefgründigen Roman. Dabei lässt sie mich nicht nur in die Lebenswirklichkeit in Deutschland, sondern auch in Indien und Serbien eintauchen.
Die Charakterisierung der handelnden Personen entwickelt sich im Laufe der Zeit. Dazu muss man die Erzählung auf sich wirken lassen. Wie ein Puzzle wird die Geschichte nach und nach aus kleinen Episoden zusammengesetzt. Es entstehen Lebensbilder, die durch Brüche gekennzeichnet sind. Lebenswege wurden geformt, die durch fremde Entscheidungen entscheidend mitgeprägt worden sind.
Das Buch sollte man behutsam lesen. Viele Abschnitte, ja manch einzelne Sätze, verweisen auf
ferne Weichenstellung. Der Schriftstil unterstreicht den Inhalt. Das liegt nicht nur an der gehobenen, fast poetischen Sprache. Dazu gehört die Aufteilung der Kapitel in kurze Sequenzen, die lyrische Sprachmelodie, dass Verwenden treffender Metapher und die bildhafte Darstellung von Gefühlen. Verlust und Einsamkeit, Sehnsucht und Geborgenheit, tiefgehende Verletzung und uneigennützige Zuwendung sind wesentliche Punkte, die im Roman thematisiert werden. Nicht zuletzt geht es um die Liebe, ihre Größe, die Verletzlichkeit, die sie hinterlässt, und die Gefahr, Grenzen zu überschreiten.
Am Beispiel der Brüder Lew und Manuel wird deutlich, dass jeder mit seiner Vergangenheit anders umgeht.
Rajesh, ein 12jähriger indischer Junge, strahlt trotz seiner äußerlichen Armut eine Zufriedenheit aus, die beeindruckt.
Das Buch verfügt über eine innere Spannung, die durch die unterschiedlichen Lebensgeschichten und die komplexen Beziehungen der Protagonisten in Vergangenheit und Gegenwart aufgebaut und gehalten wird.
Historische Gegebenheiten des geteilten Deutschlands und der Anwerbung von Arbeitskräften mit all ihren Folgen werden behutsam in den Roman integriert.
Das Cover mit dem Zopf auf hellem Grund wirkt geheimnisvoll.
Das Buch hat mir ausgezeichnet gefallen. Wie ein sich öffnender Fächer entstehen aus emotional beschriebenen Situationen Lebensgeschichten, die geprägt wurden durch die Zeitverhältnisse und durch Entscheidungen der Elterngeneration.