Warum wir wurden wie wir sind

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Zwei Menschen stehen an einem besonderen Punkt im Leben. Es ist der Tod eines Elternteils, der beide erschüttert, auf sich selbst zurück- und neue, alte Fragen aufwirft. Erinnerungen an die Kindheit und die vielen Dinge, die sie prägten.
Lew ist nach Indien gefahren, nachdem er erfahren hat, dass seine Mutter dort gestorben ist. Die Mutter, die genau wie der Vater eines Tages im Jahr 1976 aus dem Leben von Lew und seinem Bruder Manuel verschwand. Genau wie die beiden Kinder erfährt auch der Leser erst nach und nach, dass die beiden nach einer gescheiterten Republikflucht aus der DDR verhaftet und nach zwei Jahren ausgebürgert wurden. Die Jungen waren in der Zwischenzeit in einer neuen "zuverlässigen" Funktionärsfamilie untergebracht, mit neuem Namen versehen, alle Spuren für die Eltern verwischt. Eine furchtbare Situation, in die sich der ältere Manuel deutlich besser fügte als Lew. Trotz liebevoller Zuwendung durch die neue Familie, litt dieser sehr und fortdauernd an diesem Verlassenwerden, am Verlust " der Mutti" und "des Vatis". Eine Ungewissheit, ein Zweifel, ein Misstrauen, erst nach dem Tod der Pflegeeltern erfährt Lew, was damals wirklich geschah. Nun will er in Indien seinen Vater treffen und mit ihm Frieden schließen, Fragen stellen.
Iras Vater liegt im Sterben. Ihr Verhältnis ist sehr eng. Die lieblose, resolute Mutter ist schon vor langer Zeit gegangen, der Vater Cornelius war immer die Hauptbezugsperson. Dass er mit eigenen Dämonen zu kämpfen hatte, seine Liebe zur Tochter immer das zulässige Maß überstieg und er sie deshalb auf Distanz halten musste, erfährt der Leser auch schrittweise. Dämonen, die ihn bis aufs Sterbebett verfolgen. Inwiefern Ira davon wusste oder etwas ahnte, bleibt im Ungewissen. Sehr genau, manchmal quälend, aber immer würde- und respektvoll begleiten wir Cornelius beim Sterben.
Ira und Lew sind sich nicht fremd. Sie hatten einst eine Liebesbeziehung, aus der ihr Sohn John stammt. Doch Lew wollte die Verantwortung damals nicht übernehmen, schrak vor einer zu engen Bindung zurück, verließ die schwangere Ira.
Neben diesen beiden Hauptprotagonisten lernen wir noch eine ganze Reihe zumeist sympathischer Charaktere kennen. Z.B. Fido, Iras Kinder- und Jugendfreund, vielleicht auch Geliebter, vielleicht auch Vater von John? Ein rast- und ruheloser Nomade, der als Musiker die Sommermonate über durch die Welt zieht. Auch er einst von seiner Mutter in Serbien zurückgelassen, als diese als Gastarbeiterin nach Deutschland ging. Sein Großvater Tadija ging daraufhin auf die Suche nach ihr. Die beiden blieben irgendwie hängen bei der warm- und großherzigen Evi, Inhaberin einer Bäckerei in Iras Stadt. Da sind noch Iras Eltern, der schmierige, pädophile Direktor Gerster, die Pflegeeltern, Hanno, der Chauffeur und Vertraute Lews. Viele Personen, die die Autorin alle mit einem ganz eigenen Charakter sehr liebevoll schildert, aber auch viele Themen. Zeitweise hat man das Gefühl, es könnten zu viele sein. Republikflucht, Pädophilie, Missbrauch in pädagogischen Einrichtungen, Ashrams, die Ökobewegung und und und. Aber Pia Ziefle schafft es immer wieder diese Themen nahtlos in die Handlung einzufügen, so dass das Ganze, um beim Coverbild zu bleiben, einen schön geflochtenen Zopf ergibt, mit ein paar losen Enden, aber er hält bis zum versöhnlichen Ende. Er hält auch durch die wunderbare Sprache, die die Autorin verwendet, leise, poetisch, bildstark und eindringlich. Es weht ein melancholischer, aber nie trostloser Hauch durch das Buch, das sehr liebevoll erzählt von der Liebe und dem Verlassenwerden, den Wunden, die in der Kindheit entstehen, sich aber erst sehr viel später oder nie schließen, davon woraus wir gemacht sind, "warum wir wurden, wie wir sind." Die Autorin lässt dabei sich, den Figuren und vor allem dem Leser wohltuend viel Zeit. Zeit, die Personen und ihr Leben kennenzulernen, nach und nach. Zeit aber auch, um in sich selbst hinein zu horchen. Diese Zeit sollte man sich und dem Buch unbedingt widmen.