Wundervoll leiser Roman über das Verlassenwerden und Zueinanderfinden

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Eigentlich sind Eltern dazu da, ihre Kinder aufwachsen zu sehen, ihnen Lebensmöglichkeiten aufzuzeigen, Selbstvertrauen zu verleihen. Sie sind da, um ihre Kinder zu beschützen. Doch gelegentlich kommt es vor, dass Eltern über Nacht verschwinden. Manchmal gehen sie in ein anderes Land und beginnen dort ein neues Leben. Manchmal lieben sie ihre Kinder zu wenig. Manchmal zu viel. Oder sie wissen nicht mehr, inwiefern sie selbst in der Lage sind, das Leben zu ertragen.

Um die verlassenen Kinder geht es in diesem Roman und darum, was für Erwachsene aus ihnen werden. Welche Wunden sie für immer in sich tragen, was sie verarbeiten können und was sie selbst an andere weitergeben, unwissentlich. Diese Kinder, die nun Erwachsene sind, heißen Lew, Ira und Fido, und vielleicht ist es gerade diese Biografie der Verlassenen, die ihre Schicksale miteinander verwebt. Vielleicht versteht man die Wunden der anderen besser, wenn einem selbst ähnliche beigefügt wurden.

Iras Leben besteht aus dem Bäckerladen, den sie betreut, aus ihrem vierjährigen Sohn, aus Evi, die wie eine selbstgewählte Mutter ist, und ihrem sterbenden Vater. Fido ist ein Zugvogel, ein Reisender, der nie gelernt hat, Wurzeln zu schlagen, und der nur manchmal an den Ort zurückkehrt, an dem er bei seinem Großvater Tadija und Evi aufgewachsen ist. Zusammen mit Ira, die immer wie eine Schwester war, manchmal auch mehr. Lew hingegen strandet irgendwo in einem staubigen Dorf in Indien, wo seine Mutter vor kurzem verstorben ist und wo er nun seinen Vater sucht. Irgendwie hat er es nie geschafft, darüber hinwegzukommen, von den Eltern verlassen worden zu sein. Sich unabhängig zu machen von den Entscheidungen anderer. Die Gegenwart liegt im Jahr 2005 und alle drei Figuren tragen bereits sehr viel Vergangenheit mit sich, Jahre, die sie miteinander verbunden haben. Jahre, die sie geprägt haben.

Pia Ziefle erzählt ihre Geschichte sehr leise und mit stimmungsvoller Melancholie, sie lässt ihren Figuren Zeit, von der Gegenwart immer wieder in die Vergangenheit zu tauchen, aus der sich nach und nach Hintergründe und Zusammenhänge herauslösen. Je mehr man über die Kindheit der Protagonisten erfährt, desto düsterer wird auch die Stimmung, mitunter wirkt sie nahezu bedrohlich. Obwohl oder gerade weil die Autorin wenig erklärt, sondern in wunderschöner Sprache Bilder und Momente kreiert, erhält jede Figur genügend Raum, um lebendig zu werden und ihren Platz im Gesamtkonstrukt des Romans zu finden, und von manchen Figuren wünscht man sich, es würde sie tatsächlich geben, mit all ihrer Weisheit und Warmherzigkeit, mit ihrer Liebe füreinander. Sie werden wie Freunde, die man nicht gehen lassen möchte, besonders die Älteren, diejenigen, die keine Eltern (mehr) sind, wie Evi und Tadija, die aber ganz selbstverständlich andere in ihr Leben und ihr Herz lassen, besonders von solchen Menschen wünscht man sich, man würde ihnen im wahren Leben häufiger begegnen. Sie achten darauf, dass auch die Verlassenen nicht allein sind. Dass jeder ein Zuhause findet.

Leise, melancholisch, sensibel, so würde ich den Titel dieses Romans beschreiben, und genau das ist "Länger als sonst ist nicht für immer" auch: eine wunderschöne, bildhaft erzählte und mitunter traurige Geschichte darüber, wie Menschen einander prägen, wie sie sich finden und wieder verlieren. Darüber, welche Entscheidungen man aus Liebe trifft und welche Wunden entstehen an den Stellen, an denen keine Liebe wächst. Ein Roman über Sehnsüchte und voller liebevoll gezeichneter Figuren, die weggehen und aufeinander warten, die sich verletzten und die einander heilen. Ganz besonders auch das.