Zuckerkuchen

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Bäckereien spielen seit meiner Kindheit in meinem Alltag eine wichtige Rolle. Brötchen ist nicht gleich Brötchen und ein gutes Frühstück steht und fällt bei mir mit der richtigen Konsistenz der Morgensemmel. Außen fest und hell und innen ganz viel Teig. Noch heute belohne ich mich gern mit einem Kuchenbrötchen am Nachmittag, wenn ich denn noch einen echten Bäcker finde, der diese Kindheitserinnerung im Sortiment hat.
Pia Ziefle mag ein ähnliches Verhältnis zu Bäckereien haben. Nicht von ungefähr scheint Evis Backstube der Mittelpunkt des Romans. Evis Spezialität ist der serbische Zuckerkuchen nach Tadijas Rezept. Evis Besonderheit ist ihr großes Herz. Im Leben einer Handvoll Menschen ist sie die gute Seele, der Fels in der Brandung, die Rettung aus der Not mit süßem Kuchen und einem Schlafplatz zu jeder Zeit. Der Zuckerkuchen bringt Figuren zusammen, die zusammen gehören. Dazwischen wirft Pia Ziefle in leisen, poetischen Tönen Geschichten hinein, die mittendrin beginnen und ganz behutsam ein Anfang und eine Ende bekommen. Ira lebt mit ihrem 4jährigen Sohn John bei Evi und hilft ihr in der Backstube und dem Verkauf. Gleich gegenüber der Bäckerei steht Iras Elternhaus. Darin wartet ihr sterbender Vater und eine beklemmende Vergangenheit, deren Geheimnisse sie nur zu gern gegen Evis warme Herzlichkeit und die Hoffnung auf den Herbst, der vielleicht den Jugendfreund Fido zu Besuch bringt, eintauscht. Während Ira in dem kleinen Ort irgendwo in Deutschland gegen die ständige Müdigkeit kämpft, wartet Lew in Indien auf den Bus, der ihn zu seinem verschollenen Vater führen soll. In Ostberlin geboren wächst Lew mit seinem großen Bruder in einer neuen Familie auf. Die Eltern versuchten 1976 in den Westen zu türmen und ließen die Söhne allein zurück. Lew erreicht nach 29 Jahren die Nachricht vom Tod der Mutter zusammen mit der Adresse seines Vaters in einem indischen Ashram. Der Bruder will die Geschichten des Vaters nicht hören, doch Lew will wissen, was den Eltern damals wirklich passierte. Nun ist er in einem indischen Dorf gestrandet, der Ashram liegt in entgegengesetzter Richtung und der nächste Bus kommt vielleicht morgen. Lew sucht Gesellschaft und fühlt sich wohl mit dem Jungen Rajesh, dessen Verwandtschaft und den Dorfleuten, die ihm in einer Weise begegnen, dass es ihn den Blick auf das eigenen Leben richten und die richtige Perspektive darin finden lässt.
Erst in der Mitte des Buches bringt Pia Ziefle wie beiläufig diese zwei Welten zusammen. Ira und Lew haben sich viel bedeutet und sind doch weit voneinander entfernt. Die befangene Kindheit, die Vergangenheit der Eltern lastet auf ihnen beiden und hält sie fern von Unbeschwertheit, Zukunftsträumen und der Liebe. Die Autorin befreit ihre Figuren, schickt sie auf eine Reise zu den Wurzeln und damit zu sich selbst. Der Leser nimmt teil an dieser Reise, liest von Freundschaften, von verbotenen Wünschen, harten Menschen, träumenden Kindern und liebenden Großeltern. Pia Ziefle erzählt Geschichten, die von der Liebe handeln. Einfach, klar und dennoch poetisch findet sie dafür Worte, die jeden Ton treffen. Klug, einfühlsam und mit beeindruckender Leichtigkeit öffnet sie Türen, die in verschwundene Länder führen, von den Umwälzungen der nahen Vergangenheit sprechen und Familienstrukturen zeigen, die beklemmend wie alltäglich scheinen. Ihr Figurenensemble ist überschaubar, aber absolut glaubwürdig gestaltet. Durch Reduktion, Leerstellen und Andeutungen entwickeln die Geschichten einen Sog, dem sich nur schwer entziehen lässt.