Eine lebenslange Liebe

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buecherfan.wit Avatar

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Alex Capus erzählt in seinem autobiografisch gefärbten Roman “Léon und Louise” von einer Liebe, die zwei Weltkriege überdauert und fast siebzig Jahre währt. Es handelt sich um die lebenslange Romanze seines Großvaters. Als Ich-Erzähler tritt der Sohn von Léon Le Galls jüngstem Sohn Philippe auf. Er erzählt die Geschichte sozusagen rückwärts, denn er beginnt mit dem Trauergottesdienst für Léon Le Gall am 16. April 1986 in der Kathedrale Notre Dame in Paris. Die zahlreich versammelten Familienmitglieder wundern sich über das Erscheinen einer älteren weißhaarigen Dame, die eine uralte Fahrradklingel betätigt und sie dem Toten nach einem liebevollen Abschied in den Sarg legt. Diese Klingel steht für den Anfang ihrer Liebe. Die wenigsten haben Louise Janvier jemals gesehen, aber die meisten ahnen, wer die alte Dame ist.

Dann erzählt Leons Enkel die Geschichte von den Anfängen im letzten Kriegsjahr bis zum Ende. Leon lernt Louise 1918 als 17jähriger in einem kleinen Ort kennen, wo er als Morseassistent bei der Bahn arbeitet und sie im Büro des Bürgermeisters tätig ist. Sie verlieben sich. An einem Tag machen sie mit ihren Fahrrädern einen Ausflug ans Meer und geraten in einen der letzten deutschen Angriffe. Beide werden durch eine Granate schwer verletzt. Nach ihrer Genesung stellen sie Nachforschungen an, werden aber von dem Bürgermeister belogen. Jeder hält daraufhin den anderen für tot. Leon heiratet Yvonne und hat erst zwei, dann schließlich fünf Kinder mit ihr. 1928 sehen sich Leon und Louise in der Metro wieder. Sie treffen sich einmal und gehen dann auf Louises ausdrücklichen Wunsch wieder getrennte Wege, ohne Kontakt miteinander aufzunehmen. Nach mehr als zwölf Jahren beginnt Louise, Leon Briefe zu schreiben, als sie mit mehreren Mitarbeitern der Bank einen Goldtransport der Banque de France nach Französisch-Westafrika begleitet und dort fünf Jahre unter schwierigen Bedingungen lebt. Auch Leon und seine Familie haben es nicht leicht. Sie leben im besetzten Paris und müssen sich mit den Besatzern arrangieren. Yvonne kämpft wie eine Löwin für das Überleben ihrer Familie. Leon wird von dem SS-Offizier Knochen unter Druck gesetzt, weil seine vielen Fehler beim Übertragen von beschädigten Dokumenten auf neue Karteikarten als Sabotage verstanden werden. Sein minimaler Widerstand gegen die Besatzer besteht darin, den ihm von dem Deutschen aufgezwungenen Kaffee nicht nur nicht zu trinken, sondern ihn auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen und das Geld für Notleidende und Menschen in Gefahr zu verwenden und nicht für sich oder seine Familie. So entgeht er später den Repressalien der Résistance gegenüber Kollaborateuren, die den französischen Staatsdienern ganz besonders drohten. Nach Louises Rückkehr haben Léon und Louise mit Yvonnes Wissen und Duldung wieder Kontakt.

Alex Capus ist ein wunderschöner Roman über eine lebenslange Liebe gelungen, der auch Jahre und Jahrzehnte der Trennung nichts anhaben können. Bei der Darstellung dieser Liebesbeziehung ist der Autor sehr diskret. Als die Liebenden nach dem Krieg wieder zusammenkommen, genügt dem Autor der Hinweis, dass auf dem Hausboot in der dritten Woche die Vorhänge zugezogen werden. Ein Jahr nach Yvonnes Tod im Jahr 1961 gehen Leon und Louise mit dem Boot auf große Fahrt. Der Autor muss gar nicht ausdrücklich sagen, dass sie sich in den nächsten vierundzwanzig Jahren bis zu Leons Tod vermutlich auch nicht aus den Augen verlieren werden. (Umso verblüffender finde ich die Aussage des Verfassers des Klappentexts, Leon und Louise seien ein großes Liebespaar, das nie zusammenkommt. Wie denn das?)

Sehr gelungen ist die Zeichnung der Figuren: Léon, so anständig und grundsolide, dass er fast schon langweilig wirkt, ein liebevoller Ehemann und Vater, der niemals seine Familie verlassen würde und sich stets bemüht, das Richtige zu tun, die unabhängige Louise, die ihn ein ganzes Leben lang liebt und nichts fordert und schließlich Ehefrau Yvonne mit den vielen verschiedenen Facetten, die von der großen Liebe ihres Mannes zu einer anderen weiß, aber ihn ohne Eifersucht und Vorwürfe sein Leben leben lässt. Beide wissen, was sie aneinander haben. Sie sind ein starkes Paar, das auch in schweren Zeiten zusammenhält und sich auf seine Weise liebt. Schließlich hat Yvonne das real gelebte Leben auf ihrer Seite. Sie haben Jahrzehnte zusammengelebt und fünf Kinder großgezogen.

Die Verbindung von persönlichem Schicksal und Zeitgeschichte ist Capus hervorragend gelungen. Die Kriegsereignisse kommen ebenso zur Sprache wie das Leben im besetzten Paris, die französische Flüchtlingspolitik in den 30er Jahren - um die geht es bei den durch Feuchtigkeit fast zerstörten Dokumenten - und das heikle Thema der Kollaboration. Dass der Roman teilweise autobiografisch gefärbt ist, macht seinen besonderen Reiz aus. Ein großartiges Buch.