angenehm leise

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»Bobby schaute aus dem Fenster. Er sagte: Vielleicht wollte keiner den anderen verlassen.
Guthrie warf ihm einen Blick zu. Schon möglich, sagte er. Vielleicht ist es so gewesen, mein Sohn.« – Lied der Weite, S. 91

Kurz zum Inhalt
In einem ersten Erzählstrang lernt der/die Leser*in die siebzehnjährige Victoria kennen, die ungewollt schwanger ist. Ihre Mutter reagiert ziemlich herzlos und setzt den Teenager vor die Tür. Daraufhin sucht sie Zuflucht bei ihrer Lehrerin Maggie Jones. Doch auf Dauer kann sie dort nicht bleiben und so überredet die Lehrerin die Brüder McPheron das Mädchen zu sich zu nehmen. Diese zwei etwas kauzigen Junggesellen leben seit Jahrzehnten einsam und alleine auf einer Kuhfarm und hatten noch nie eine Frau im Haus.
In einem zweiten Erzählstrang wird das Leben von Tom Guthrie und seinen zwei Söhnen Bobby und Ike erzählt, deren depressive Frau und Mutter zuerst aus dem gemeinsamen Haus auszieht und dann die Stadt ganz verlässt.

Meine Meinung
In den letzten Tagen habe ich viele Stimmen gehört, die nicht ganz so enthusiastisch und begeistert von Lied der Weite berichten, wie noch von Unsere Seelen bei Nacht. Das schürt bei mir natürlich grosse Erwartungen, da ich bereits dieses Buch unglaublich gut fand.

Auch wenn mir der Einstieg nicht ganz so leicht viel. Grad am Anfang des Buches empfand ich die einzelnen Kapitel sehr zusammenhangslos und willkürlich erzählt. Nach und nach entfalten sich aber die Zusammenhänge, so dass ich die Lektüre des Buches nur noch geniessen konnte.
Besonders ins Herz geschlossen habe ich die etwas kauzigen McPheron Brüder, die nach dem Tod ihrer Eltern vor bald einem halben Jahrhundert die Viehfarm etwas ausserhalb von Holt weiter führen. In die Stadt verirren sie sich nur, wenn sie dazu auch einen Grund haben, ansonsten genügt ihnen ihr einsames Leben draussen auf dem Land. Sie sind etwas spezielle Gesellen, können aber keiner Fliege etwas zuleide tun. Das ist auch mit ein Grund, warum Maggie Jones sie bittet, Victoria bei sich aufzunehmen.

»Ich weiss schon, es klingt verrückt, sagte Maggie. Wahrscheinlich ist es das auch. Keine Ahnung. Ist mir auch egal. Aber das junge Mädchen braucht jemanden, und ich bin zu jeder Verzweiflungstat bereit. Sie braucht ein Zuhause für die vor ihr liegenden Monate. Und sie – sie lächelte die beiden an – , zwei so einsame alte Kerle wie Sie brauchen auch jemanden. Jemanden, für den Sie sorgen, etwas, worüber Sie sich Gedanken machen können, nicht nur immer ihre alten roten Kühe.«  – Lied der Weite S.140

Das Verhältnis der Brüder und Victoria ist zu Beginn dann auch noch etwas distanziert und kühl. Beide Seiten wissen nicht so recht, was sie mit den jeweils anderen bereden, wie sie sich verhalten sollen. Doch schnell merkt man, dass sich da drei gefunden haben, dass es nun einen Ort gibt, wo Sorgen abgeladen werden können und wo ein liebevolles, wenn auch manchmal etwas unbeholfenes Miteinander statt findet. Diese Entwicklung mitzuverfolgen war wirklich schön und herzerwärmend, ich kann es nicht anders sagen. Zudem gab es auch manche gar komische Situation, zum Beispiel dann, als die Brüder über die Trächtigkeit von Kühen und Schwangere philosophieren und ihre Vergleiche ziehen.

Die Geschichte um Tom Guthrie und seine Söhne hat mich dafür eher etwas verwirrt. So habe ich lange Zeit gar nicht richtig gemerkt, dass die Mutter ihr abgedunkeltes Zimmer gegen ein eigenes kleines Häuschen getauscht hat, dass sie also ausgezogen ist aus dem Familienzuhause. So habe ich mich über mehrere Kapitel gefragt, wer denn die Frau in dem Zimmer ist und warum sie nicht mehr erwähnt wird. Bis ich mir dann zusammen gereimt hatte, dass das ja die Mutter der beiden Jungs ist...
Dennoch gab es auch in diesem Teil der Geschichte ein paar Aspekte, die mich sehr berührt haben. So zum Beispiel die alte Frau, der Ike und Bobby jeweils die Zeitung bringen und deren einzige Abwechslung in einem tristen Alltag sie sind. Die sie dann aber leider auch tot in ihrem Sessel entdecken.

Immer wieder werden Themen wie Gewalt, Alkoholismus, Depression und Einsamkeit in die Geschichte eingebracht und verbinden die unterschiedlichen Protagonisten miteinander. Dabei spiegelt sich die winterliche Kälte auch in den Herzen einiger Figuren wieder, was mich manches Mal leer schlucken liess. Aber die Menschen beklagen sich nicht, sie sind zufrieden mit ihrem Leben und kommen auch mit den widrigsten Umständen zurecht. Besonders zum Ausdruck kommt das "Miteinander", sich helfen und unterstützen ohne immer eine Gegenleistung zu erwarten. Dieser Gedanke zieht sich wunderbar durch das ganze Buch und trägt die Geschichte.
Bei dieser ruhigen Erzählweise plätschert das Buch aber leider zwischendurch auch etwas vor sich hin und die Handlung gerät etwas ins Stocken.

»Sie wollten ihr den Schlüssel zurückgeben, aber sie sagte: Den vertrau ich euch an. Ihr könnt reinkommen, wenn ihr das Bedürfnis habt. Und ich muss nicht immer aufstehen, um euch reinzulassen. Vielleicht möchtet ihr das ja ab und an mal. Sie sah sie an. In Ordnung? Sie nickten.« – Lied der Weite, S.186

Fazit
Lied der Weite ist eine wunderbar ruhige Geschichte, die auch genau so unaufgeregt erzählt wird. Mich konnten vor allem die Charaktere für sich gewinnen, die alle unglaublich liebevoll gezeichnet sind. Immer wieder finden sich berührende Szenen, allerdings gibt es vor allem am Anfang des Buches immer wieder Längen und einige Unklarheiten, die sich der/die Leser*in selbst erschliessen muss.
Alles in allem mochte ich Lied der Weite aber sehr gerne lesen  und bin nun natürlich um so mehr gespannt, wie Unsere Seelen bei Nacht sein wird.