Die Kleinstadt Holt ist überall

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hennie Avatar

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Es ist lange her, dass ich auf so wenigen Seiten so viele realistische Einblicke in die Lebens- und Arbeitswelt von Menschen bekommen habe. Kent Haruf erzählt in einem beobachtenden, unaufgeregten Stil von sieben Personen, die mehr oder weniger miteinander in Beziehung stehen. Der Alltag, das Leben wurde von ihm meisterhaft in Szene gesetzt. Das Ganze passiert in der fiktiven Kleinstadt Holt in Colorado, in der Weite der Prärie.
Alle sieben sind wunderbar beschrieben. Übrigens auch die anderen handelnden Personen.
Zuerst möchte ich Victoria Roubideaux nennen, die kurzerhand von ihrer kaltherzigen Mutter nicht mehr ins Haus gelassen wird. Sie ist schwanger mit 17, geht noch zur Schule. Sie steht plötzlich vor dem Nichts. Vorläufig gibt ihr Maggie Jones, die Lehrerin, Halt und Heim. Dann haben wir da den alleinerziehenden Lehrer Tom Guthrie mit seinen Söhnen Ike und Bobby. Die Mutter Ella verläßt ihre Familie. Die beiden neun- und zehnjährigen Jungen sind für ihr Alter meiner Meinung nach viel zu vernünftig. Das tägliche Leben ist bei Ike und Bobby schon so durchstrukturiert wie bei den meisten Erwachsenen nicht. Ja, und dann erleben wir die beiden kauzigen, wortkargen Brüder McPheron! Herrlich! So viel menschliche Wärme und Herzensbildung bei zwei alten Männern, die ihr ganzes Leben nur mit sich und den Tieren zu tun hatten!

Durch die kurzen Kapitel kam ich mit dem Lesen sehr schnell voran. Sie sind überschrieben mit den Namen der handelnden Personen. Dass die Dialoge nicht angezeigt werden, störte meinen Lesefluß nicht.
Der Autor wertet nicht. Er läßt seine unverfälschten, lebensechten Sätze wirken und erzielte bei mir sehr schnell Reaktionen. Das Kopfkino ließ sich bis zum Ende des Romans, und eine ganze Weile darüber hinaus, nicht abschalten. Bei mir lösten die Ereignisse unterschiedliche Emotionen wie z. B. Unverständnis/Verständnis, Empörung, Ohnmacht, Mitgefühl oder Ablehnung aus. Durch die durchgängig neutrale Draufsicht auf die Geschehnisse provoziert der Schriftsteller Reaktionen beim Leser. Bei mir funktionierte das. Doch mit den unzähligen Fragen bleibt man allein. Da die Begebenheiten weitgehend in der Gegenwart spielen ohne nennenswerte Rückblicke in die Vergangenheit, ist der Spielraum für Interpretationen groß. Manche Dinge sind eben so wie sie sind und können im Moment nicht gelöst werden. Wie im realen Leben! Das Verhältnis der Mutter zu ihren beiden Jungen und zu ihrem Mann zähle ich dazu.

„Das Lied der Weite“ – das waren für mich 377 Textseiten mit bewegenden, aufwühlenden, sehr menschlichen Emotionen.

Mein Fazit:
Kent Haruf erzählt in einer ruhigen, bildhaften und einfachen Sprache von den Einwohnern der kleinen Stadt Holt. Unverfälscht, echt, authentisch, richtig aus dem Leben gegriffen!
Es ist sehr traurig, dass der Autor bereits 2014 starb.

Ich bewerte diesen wunderbaren Roman mit fünf von fünf Sternen und vergebe meine unbedingte Lese-/Kaufempfehlung.