Familie finden

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bluevanmeer Avatar

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Mit dem Roman "Unsere Seelen bei Nacht" hat der amerikanische Schriftsteller Kent Haruf viele Leser*innen begeistert, der Roman wurde mit Jane Fonda und Robert Redford verfilmt. Es geht um zwei Menschen, die einsam sind und beschließen, etwas gegen ihre Einsamkeit zu unternehmen. 2014 verstarb Kent Haruf.

Im Diogenesverlag erscheint jetzt ein neuer - alter - Roman des Schriftstellers, der bereits 2001 unter einem anderen Titel und ohne großen Erfolg bei Goldmann verlegt wurde. Lied der Weite verspricht zumindest eine deutliche Nähe zum Originaltitel "Plainsong". Der Roman ist ruhig, der Grundton melancholisch.



Die Tür in der gegenüberliegenden Wand war geschlossen. Das Mädchen war nach dem Abendessen in ihr Zimmer gegangen, und seitdem hatten sie nichts mehr von ihr gehört. Sie wussten nicht, was sie davon halten sollten. Im Stillen fragten sie sich, ob alle siebzehnjährigen Mädchen nach dem Abendessen verschwanden. (S.167)





Es geht um Victoria, die mit 17 Jahren ungewollt schwanger wird. Ihre Mutter setzt sie vor die Tür. Zum Glück hilft ihr eine Lehrerin und bringt das Mädchen kurzerhand bei zwei alten Viehzüchtern unter, den Brüdern McPheron. Die brummigen Männer geben sich zwar Mühe, aber das Zusammenleben mit Victoria verläuft nicht ohne Schwierigkeiten.

Ein weiterer Handlungsstrang dreht sich um zwei Brüder, Bobby und Ike, die von ihrer depressiven Mutter vernachlässigt werden. Der Vater hat die Familie verlassen, kümmert sich aber noch jede zweite Woche um die Jungs. Ihre Mutter liegt nur noch im Bett und die beiden Brüder suchen sich einen Nebenjob um ihrer Mutter eine Freude zu machen. Sie kaufen ein Parfüm, es heißt "Evening in Paris".



Langsam löste sie die Schleifen, wickelte das bunte Papier ab. Als sie sah, was in den Schachteln war, fing sie an zu weinen. Die Tränen rannen ihr über die Wangen, sie kümmerte sich nicht darum. O mein Gott, sagte sie. Mit den Schachteln in den Händen umarmte sie weinend die beiden Jungen. O mein Gott, was soll ich nur machen.





Kent Haruf lässt sämtliche seiner sechs Romane in der fiktiven Kleinstadt Holt spielen. Hier passiert nicht viel. Es gibt Schlägereien, Gewalt in der Familie, einen Lehrer, der versucht alles richtig zu machen und dabei doch vieles falsch macht, eine Lehrerin, die ein Mädchen rettet und nebenbei verendet auch noch ein Pferd.

Die Themen Gewalt in der Familie, Alkoholismus und Einsamkeit, erleben fast alle Protagonist*innen der Geschichte. Trotzdem gibt es immer wieder überraschende Momente der Menschlichkeit, wenn sich Figuren gegenseitig helfen ohne dafür eine Gegenleistung zu erwarten.

Lied der Weite ist eine sehr ruhige Geschichte. So idyllisch (trotz der schwierigen Themen), dass ich anfänglich gar nicht genau wusste, in welcher Zeit die Handlung spielt. Es gibt kein Internet, Handys werden nicht erwähnt, stattdessen ist von Viehzüchtern und Farmen und dem weiten Land die Rede. Kein Wunder, dass die Kleinstadt Holt ein wenig anachronistisch anmutet. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass letztlich in Holt immer noch "alles in Ordnung" ist. In Notlagen helfen sich die Menschen und greifen dabei auch auf ungewöhnliche Lösungen zurück. Victoria wird geholfen und zwar innerhalb der dörflichen Strukturen, die in Holt bestehen und ohne dass sich irgendjemand einmischt, der nicht dazugehört. Das liest sich sehr schön, wirkt aber vor allen Dingen auch sehr melancholisch. Vielleicht, weil es solche dörflichen Strukturen heute nur noch selten gibt? Der Ansatz dahinter kann aber moderner nicht sein: Familie ist da, wo man sie findet. Mit wirklichen Verwandtschaftsverhältnissen hat dieser Familienbegriff meist wenig zu tun. Und das macht diesen Roman zu etwas ganz besonderem.