Holt - ein ländlicher Mikrokosmos

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Von

Victoria - 17, ungewollt schwanger, von der Mutter vor die Tür gesetzt.
Die McPherons - Brüder, alte Junggesellen, leben allein auf ihrer Farm außerhalb von Holt.
Tom Guthrie - Vater von Ike und Bobby, alleinerziehend, nachdem Ehefrau Ella die Familie verlassen hat.
Ike und Bobby - unzertrennliches Brüderpaar, das so einige Abenteuer erlebt.
Und noch viele weitere Charaktere laufen uns in diesem Buch, das in der fiktiven Kleinstadt Holt im US-Bundesstaat Colorado spielt, über den Weg. Und als die McPheron-Brüder sich entscheiden, Victoria bei sich aufzunehmen, finden all diese Menschen auf die ein oder andere Weise zueinander.

Harufs Erzählstil, seine Herangehensweise an das Geschehen und an seine Figuren sind außergewöhnlich. Als wäre der Autor zufällig zur erzählten Zeit in Holt vorbeigekommen, hätte die Szenen beobachtet und aufgeschrieben, ohne mit den Figuren Kontakt aufzunehmen, ihr Handeln zu hinterfragen oder zu beurteilen, in ihrer Vergangenheit herumzustochern oder sie über ihre Zukunft auszuquetschen. "Lied der Weite" ist mehr eine Momentaufnahme: Davor gab es zwar etwas, aber das wird nicht erforscht, und danach wird es etwas geben, aber das Glück dieser Zukunft wird nur angedeutet, nicht erzählt. Man muss sich also darauf einstellen, dass viele Fragen unbeantwortet bleiben werden. Aber das stört nicht, ganz im Gegenteil. Man liest und lebt im Moment, wenn man dieses Buch in die Hände nimmt.

Zu seinen Figuren ist Haruf weder freundlich noch hämisch. Sie erleben eben alles, was im Leben geschehen kann. Nichts wirkt konstruiert, alles bedingt sich gegenseitig, es liest sich wie ein Fluss, der immer und ungehindert fließt. Ich hatte eher den Eindruck, dass ich für kurze Zeit das Leben echter Menschen beobachte, dass sie außerhalb dieser Erzählung genauso existieren wie innerhalb. Diese objektive, distanzierte Ezählhaltung nimmt dem Buch aber nichts von seiner Intensität. Jedes Kapitel, das jeweils einen anderen Protagonisten in den Fokus stellt, hat einen eigenen Spannungsbogen, wodurch das Lesen zu einer fordernden Erfahung wird. Ohne Probleme lässt sich dieses Buch auch auf einen Rutsch durchlesen.

Wer sich jetzt fragt "Und was ist mit den Gedanken, den Gefühlen der Protagonisten?", dem sei gesagt: Sie werden selten explizit ausgesprochen, z.B. in Dialogen, sondern gezeigt. Show, not tell, so lautet doch das altbekannte Prinzip des guten Erzählens. So kaufen beispielsweise Ike und Bobby ihrer Mutter, die die Familie verlassen hat, aus Liebe und Sehnsucht Parfum und Badeperlen (man merke, sie sind 9 und 10 Jahre alt), die alten McPherons kümmern sich rührend um Victoria, obwohl sie noch nie mit einer so jungen und auch noch weiblichen Person konfrontiert waren, und Guthrie bezeugt seinen Jungs Respekt und Liebe, indem er sie Entscheidungen treffen lässt und sie in die landwirtschaftliche Arbeit einbindet. So entstehen Bilder von den Protagonisten, die nicht geschaffen werden müssen, sondern die einfach keimen.

Für mich war "Lied der Weite" eine fast schon meditative Leseerfahrung. Ein Werk, das von großem schriftstellerischem Können zeugt und auf ganz eigene Art zu fesseln weiß. Der Mikrokosmos Holt, das rauhe ländliche Leben der 70er wird eindringlich geschildert, und immer wieder durchbrochen von Funken der Nächstenliebe und Zuwendung. Auf einer solchen positiven Note endet das Buch auch und lässt damit ein angenehm warmes Gefühl zurück, ohne gefühlsduselig geworden zu sein. Volle 5 von 5 Sternchen und eine Leseempfehlung!