In einer kleinen Stadt

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Schwanger und erst 17 ist Victoria, ihre Mutter wirft sie kurzer Hand aus dem Haus. Ella hat Depressionen und verlässt ihren Mann Tom und ihre Söhne Ike und Bobby. Die Brüder sind eine eingeschworene Einheit, tragen Zeitung aus und viel Verantwortung. Maggie, die Lehrerin kümmert sich um Victoria und verschafft ihr ein neues zuhause bei den McPherons Brüdern. Diese beiden alten knorrigen Männer übernehmen ihre neue Mitbewohnerin und Aufgabe mit Bravour.
All das passiert in dem kleinen fiktiven Städtchen Holt in Colorado, ein amerikanischer Mikrokosmos voller mehr oder weniger unglücklicher Menschen. Kent Haruf erzählt Episoden aus dem Leben dieser Menschen, deren Wege durchs Leben mäandern, sich manchmal kreuzen, gar aneinander prallen. Es sind Geschichten über Verlust, Einsamkeit, Erwachsenwerden, aber auch über Neuanfänge und Hoffnung. Völlig unaufgeregt und nicht wertend gleitet der Blick des Erzählers einer Kamera gleich durch die Straßen und Häuser. Gefühle haben wenig Platz in diesen einfachen Leben, so treibt die Sprachlosigkeit eines Ehemanns die Frau in eine Depression, hat Sexualität gar nichts Romantisches sondern ist nur Gewohnheit oder Trieb. Leben und Sterben ist für die Menschen auf einer Farm der normale Lauf der Dinge. Und doch wird Stück für Stück dieses Gefüge aufgerissen, die Menschen nähern sich an, Alte wie Junge bilden neue Gemeinschaften.
Lied der Weite ist 2018 in deutscher Sprache posthum aufgelegt, das Original erschien schon 1999. An einigen Kleinigkeiten kann man zwar feststellen, dass die Handlung noch früher, eher in den 80er Jahren stattfindet, und doch ist die Geschichte zeitlos, die Sprache geradlinig, ohne Schnörkel. Nicht alles wird erzählt, manche Zusammenhänge darf man sich selbst finden, es gibt keine Rückblicke. Vom Klappentext darf man sich nicht täuschen lassen, die Geschichte um das schwangere Mädchen und die alten Männer, die es bei sich aufnehmen, steht nicht im Vordergrund. Ich empfand alle Figuren gleichwertig und auch im kleinsten Detail wichtig. Nichtsdestotrotz hatte ich die McPheron Brüder am meisten in mein Herz geschlossen. Wie die beiden wortkargen Alten, die über Jahrzehnte nur mit sich auskommen mussten oder wollten, liebevoll, fürsorglich, manchmal etwas ungeschickt und doch bemüht Victoria begegnen, vollkommen vorurteilsfrei ihr Obdach und ein Zuhause geben, hat mich berührt. Auch wenn der Text im gesamten eher melancholisch gehalten ist, konnten die Doppelconferencen der beiden mir immer wieder ein Schmunzeln hervorlocken.
Der Schluss kam mir zu früh, das Buch hätte ewig weitergehen können. Das sehr amerikanische waltonartige Ende hat mich überrascht. Aber im Hinblick darauf, dass Lied der Weite der Auftakt einer Trilogie sein soll, kann ich mich auf eine Fortsetzung freuen