Kein amerikanisches Idyll

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
corsicana Avatar

Von

Eine Kleinstadt in den Weiten der amerikanischen Prärie in Colorado. Das Leben geht seinen alltäglichen Gang. Meist ist das Leben eintönig und anstrengend. Man lebt eher nebeneinander her. Aber man achtet auch aufeinander, jeder kann jeden beobachten. Kleinstadt eben. Einige Einwohner werden abwechselnd näher beschrieben. Da sind die 17 jährige Viktoria, die ungeplant schwanger wird und deswegen von ihrer Mutter aus dem Haus geworfen wird. Da ist ihre Lehrerin, die sich um sie kümmert, sie aber nicht bei sich behalten kann, weil sie ihren dementen Vater betreuen muss. Da ist der Lehrerkollege Guthrie, dessen Frau depressiv ist und der sich alleine um seine zwei kleinen Söhne kümmern muss. Und zusätzlich Ärger mit einem faulen und gewalttätigen Schüler hat. Und da sind die beiden alten Brüder auf ihrer abseits gelegenen Farm, die die schwangere Viktoria aufnehmen und mit ihrer eine Art Wahlfamilie aufbauen.

Eigentlich passiert in diesem Buch nicht besonders viel. Nur das Leben eigentlich. Und das ist für die meisten Protagonisten eher nicht so schön und wenig spannend. Besonders der Umgang mit den Kindern hat mich persönlich eher schockiert. Anscheinend ist es ganz normal, das 9-10 jährige Jungs jeden Morgen vor der Schule in der ganzen Stadt Zeitungen austragen. Und, dass eine 17 jährige jeden Tag nach der Schule stundenlang in einem Cafe in der Spülküche arbeitet und erst nach 19 Uhr nach Hause geht. Die Selbstverständlichkeit, mit der dies und anderes erzählt wird, lässt einen als Leser öfters schlucken. Warum man trotzdem weiter liest? Dies liegt sicherlich an der schönen, beschreibenden und gleichzeitig lakonischen Sprache, die eine Atmosphäre von Melancholie und gleichzeitig Härte vermittelt (einige sehr realistische Beschreibungen von Szenen mit einem Tierarzt inbegriffen). All dies wäre fast unerträglich traurig - wenn es nicht zwischendurch diese warmherzigen Momente mit viel Menschlichkeit geben würde. Denn es gibt schöne und positive Momente im Buch, gegenseitige Hilfe, vorsichtige Anfänge von Liebe und liebevolle Unterstützung.

Dies alles ist so einzigartig gut beschrieben und ausbalanciert, dass das Lesen zu einem schönen Erlebnis wird und man das Buch mit einem warmen und gleichzeitig melancholischem Gefühl im Bauch am Ende schließt.

Kent Haruf hat wohl alle seine Romane in der fiktiven Stadt Holt in Colorado angesiedelt. Bekannt geworden ist er in Deutschland mit seinem letzten Roman "Unsere Seelen bei Nacht", der jetzt mit Robert Redford verfilmt wurde. "Das Lied der Weite" ist ein älterer Roman, der jetzt in Deutschland neu aufgelegt wird. Im Original heißt er "Plainsongs", was noch deutlicher die Weite und die Ödnis und die Melancholie der amerikanischen Plains = Prärie wiederspiegelt.

Die Sprache von Kent Haruf hat mich verzaubert - und jetzt muss ich noch die anderen Bücher von diesem Schriftsteller lesen.