Unaufgeregter Kleinstadtroman

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krimielse Avatar

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Seine sechs Romane hat der amerikanische Autor Kent Haruf in einer fiktiven Kleinstadt Holt im US-Bundesstaat Colorado spielen lassen.
Wenn man sich die Bilder des Journalisten Max Liu anschaut, die er 2014 bei einem Interview mit dem amerikanischer Autor aufnahm und die die Gegend von Colorado zeigen, in der Holt angesiedelt sein könnte, erblickt man karges, braunes, trockenes, baumloses und flaches langweiliges Land mit ein paar spärlichen Farmerhäusern und schnurgeraden Wegen und Straßen. Kein Ort, an den ich auch nur einen Gedanken verschwenden würde, geschweige denn mich wohlfühlen könnte.
Dennoch wuchs mir der Ort Holt und die darin lebenden Personen beim Lesen des preisgekrönten Romans „Lied der Weite“ so sehr ans Herz, dass ich traurig war zu gehen und sehnsüchtig auf weitere Veröffentlichungen von Kent Haruf in deutscher Übersetzung hoffe.

(Fotos und Artikel des Journalisten Max Liu:
https://www.panmacmillan.com/blog/february-2014/kent-haruf-s-benediction-in-pictures)

Die 17jährige Victoria wird von ihrer Mutter hinausgeworfen nachdem sie schwanger von ihrer Sommerliebe Dwayne geworden war. Sie möchte das Kind austragen, auch wenn sie keine Ahnung hat, wo der Vater des Kindes lebt, den sie eigentlich kaum kennt. Ihre Lehrerin Maggie schickt sie zu den Brüdern McPheron, zwei alten Viehzüchtern, die seit Jahrzehnten allein auf ihrer abgelegenen Farm leben. Nachdem die beiden anfangs etwas widerwillig Victoria bei sich aufnehmen, entwickelt sich bei Raymond und Harold etwas schwerfällig und sehr unbeholfen eine tiefe Zuneigung zu dem schüchternen und stillen jungen Mädchen. Sie haben keinerlei Erfahrung mit jungen Frauen, sind aber auf absolut rührende und beim Lesen oft witzige Weise bemüht, alles richtig zu machen, um das Mädchen nicht zu verschrecken und zu vertreiben und ihr ein Heim zu bieten.
Tom Guthrie, ebenfalls Lehrer an der Highschool von Holt, kämpft nach einer zerbrochenen Ehe gemeinsam mit seinen beiden Söhnen Ike und Bobby gegen die Einsamkeit. Die beiden Jungen haben einen einfachen und festen Tagesrhythmus mit Zeitung Austragen, Schule und Arbeit am Nachmittag, der vom Auszug der Mutter durcheinander gebracht wird. Kindlich und eng aneinander gebunden finden sich die Jungen in ihr Schicksal, versuchen Auswege aus der Langeweile während der Ferien zu finden und bemühen sich bei Besuchen um ihre depressive Mutter. Tom Guthrie sucht und findet neue Liebe auf die typisch kleinstädtische Art unter Beobachtung aller Augen.

Es ist kein schönes oder angenehmes Leben in der langweiligen Prärie von Colorado, das der Roman beschreibt, sondern das harte Erarbeiten von Lebensmut in karger und abweisender Umgebung. Im Gegensatz dazu beschreibt Kent Haruf seine Figuren voller warmer Melancholie und Aufrichtigkeit, lässt sie ohne große Abschweifungen ihren Alltagsgeschäften nachgehen. Man spürt jedoch in jedem Satz, wie sehr die Menschen aufeinander aufpassen und füreinander da sind, auch wenn dies erst auf den zweiten Blick deutlich wird und manch einer einen Schubs aus seiner Einsamkeit und Eingefahrenheit heraus braucht. Es wird im Laufe der Geschichte sehr deutlich, dass nicht nur Blutsverandschaft Familie und Geborgenheit ausmacht, sondern dass sich Zusammengehörigkeit manchmal erst ergeben muss und man sich seine Familie selbst sucht.

Mit großer Selbstverständlichkeit und knapper, fast spröder Sprache wird die Geschichte aufgerollt. Obwohl wenig Spannung in die Geschehnisse gebracht wird nimmt das Buch sehr gefangen und wenn man sich einmal auf die Kleinstadt Holt und die manchmal fast ruppigen Figuren eingelassen hat, lässt es den Leser nicht mehr los.
Mich hat diese Art des Erzählens in all ihrer Gelassenheit und Unaufgeregtheit sehr fasziniert, ich habe beim Lesen die Kraft und den Sog deutlich gespürt, den die Geschichte entwickelt und habe am Ende das Buches sehr ungern zugeklappt.

Für mich ist der preisgekrönte Roman „Lied der Weite“ ein sehr beeindruckendes und nachhaltig wirkendes Stück Literatur eines großen Schriftstellers, den man als Liebhaber tiefgründiger Romane gelesen haben sollte.