Weite der Prärie - Weite der Herzen

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barbara62 Avatar

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„Lied der Weite“, im Original 1999 erschienen unter dem Titel „Plainsong“, ist der dritte von sechs Romanen des US-Amerikaners Kent Haruf (1943 – 2014). Da ich 2017 seinen letzten, „Unsere Seelen bei Nacht“, gelesen und sehr geliebt habe, waren meine Erwartungen hoch – und wurden erfüllt. Noch mehr als die Handlung haben mich die Charaktere und die Atmosphäre bezaubert. Die unaufgeregte Erzählweise, das genaue Beobachten, das bedächtige Erzähltempo und die atmosphärische Schilderung des Lebens in der fiktiven Kleinstadt Holt, Colorado, in der alle Romane Harufs angesiedelt sind, machen auch dieses Buch für mich zu einem literarischen Kleinod.

Zwei Schicksale stehen im Mittelpunkt: Da sind einmal die Brüder Bobby und Ike Guthrie, neun und zehn Jahre alt, deren an Depression erkrankte Mutter die Familie verlässt und zu ihrer Schwester nach Denver zieht. Bobby und Ike sind mit ihrer Trauer und Sehnsucht weitgehend auf sich allein gestellt, da ihr Vater Tom mit eigenen Problemen zu kämpfen hat. Auch die 17-jährige Schülerin Victoria Roubideaux ist ganz allein: Wegen ihrer Schwangerschaft hat ihre Mutter sie vor die Tür gesetzt, sie steht vor dem Nichts.

Es sind jedoch nicht diese drei Protagonisten, die den Roman so besonders machen, es sind die Nebencharaktere, die soviel Hoffnung und Zugewandtheit ausstrahlen an diesem ansonsten tristen Ort. Einer von ihnen ist die kluge, engagierte und verständnisvolle Lehrerin Maggie Jones, die sich Toms annimmt. Sie ist es auch, die Victoria ohne zu zögern vorübergehend bei sich aufnimmt und die ebenso unglaubliche wie geniale Idee hat, sie bei den McPheron-Brüdern auf deren Rinderfarm 17 Meilen außerhalb von Holt unterzubringen. Diese beiden alten Farmer, schroffe, ungehobelte, raubeinige alte Männer, die ein halbes Jahrhundert dort alleine gehaust haben, nicht wissen, wie man redet, aber zutiefst gutherzig und rührend sind, waren meine absoluten Lieblingsfiguren. Aber auch der alte Arzt Dr. Martin, der Victoria respektvoll, einfühlsam und herzlich betreut, und die kranke, etwas verwahrloste alte Mrs. Stearns, die sich so liebevoll der beiden mutterlosen Buben Bobby und Ike annimmt, zeigen, was wahre Güte ist. Sie haben mich immer wieder vergessen lassen, wie trostlos und karg das Prairiestädtchen Holt eigentlich ist, wie unsympathisch manche seiner Bewohner und welch schwere Last viele mit sich herumschleppen.

„Lied der Weite“ habe ich zunächst nur auf die Weite der Prärielandschaft bezogen, doch nach der beglückenden Lektüre denke ich mehr an die Weite der Herzen einiger seiner Bewohner. Ihre Menschlichkeit schenkt Hoffnung, nicht nur Bobby, Ike und Victoria, sondern auch mir als Leserin. Deshalb wünsche ich diesem kleinen, unspektakulären Roman im deutschsprachigen Raum genauso viel Beachtung wie bei seinem Erscheinen 1999 in den USA, als er auf der Shortlist des National Book Award for Fiction stand und ein Bestseller wurde.