Gothiv novel?

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Der Roman hat bei mir einen ambivalenten Eindruck hinterlassen. Obwohl ich ihn an diesem Wochenende kaum aus der Hand legen mochte, habe ich mich, vor allem in der ersten Hälfte, auch innerlich oft an ihm gerieben. Dass es sich um einen Debütroman handelt, mag man kaum glauben. Der Autor besitzt große Erzählkunst und einen schönen, bildhaften Stil. Dennoch habe ich mich dabei ertappt, dass ich zu Beginn immer ungeduldiger wurde. Zwar sind die Charaktere wunderbar ausgearbeitet, dennoch viel es mir schwer, dieser bigotten Gemeinschaft, die sich in vielen Diskussionen ergeht, mit Spannung zu folgen. Wo will der Autor bloß hin, habe ich mich gefragt. Schließlich habe ich vor lauter Ungeduld ein wenig gegoogelt und stellte fest, dass es sich bei dem Buch um eine Gothic novel handeln soll, eine Lektüre, die ich schon seit meiner Schulzeit liebe. Das hat mich dann ein wenig beruhigt. Leider dauerte es aber mehr als 150 Seiten, bis etwas auch nur annähernd Übernatürliches passierte. Mit Ausnahme des Schlusses habe ich die Geschichte als nicht sehr unheimlich empfunden, anders als die Zeitung Telegraph, deren Zitat sich auf dem Umschlag findet.

Der Ich-Erzähler, dessen waren Namen der Leser nicht erfährt, wird von seinem neuen Priester nur Tonto genannt. Tontos älterer Bruder Andrew ist nicht nur stumm, sondern auch von besonders kindlichem, entwicklungsgestörtem Gemüt. Alljährlich pilgert in den siebziger Jahren ein Teil einer streng gläubigen Gemeinde, angeführt zunächst von Father Wilfred, dann von Father Bernard, nach Coldbarrow an der nordenglischen Küste, in der Hoffnung, dort an einem Schrein Heilung für etwas Unheilbares zu finden: die Behinderung von Andrew. Dort erstreckt sich auch der besondere unwirtliche Landstrich Loney, der dem Buch seinem Namen gibt. Der christliche Glaube oder der Verlust desselben ist einer der zentralen Themen des Buches, was ich manchmal als anstrengend empfunden habe. Vor allem die Frömmelei von Tontos und Andrews Mutter, genannt "Mummer" und die Wortgefechte, die sie sich mit der Köchin Miss Bunce liefert, zerren manchmal an den Nerven. Dies hat der Autor vermutlich sogar beabsichtigt.

Als viele Jahre später eine Babyleiche in Coldbarrow gefunden wird, blickt Tonto auf die damaligen Ereignisse zurück und beginnt, seine höchstpersönliche Version der Geschichte zu Papier zu bringen. Dass Andrew nun Priester und Familienvater ist, überrascht sehr. Herauszufinden, wie es dazu kam, stellte für mich den eigentlichen Reiz des Buches dar. Ich hätte mir allerdings viel mehr unheimliche Elemente gewünscht und bin mit dem Etikett Gothic novel nicht ganz einverstanden.

Den Buchumschlag habe ich zunächst unterschätzt, da er mir zu monochrom erscheint. Erst nach einer Weile habe ich den roten Blutstropfen entdeckt, der von den winterkahlen Ästen tropft; das ist gelungen! Dennoch bin ich mit solchen Umschlägen nicht glücklich, zumal wenn es sich nicht um Hochglanz-Umschläge handelt. Wer wie ich gezwungen ist, in der Bahn und noch schmutzigeren Orten zu lesen, möchte sich dann am liebsten Handschuhe anziehen. Es dauerte denn auch nicht lange und in meiner Tasche hatte bereits ein Ordner durch die Hitze blau abgefärbt.