ein atemeberaubendes buch zu einem sehr sensiblen thema

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blätterwald Avatar

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Wie schon bei ihren anderen Romanen kann ich nur sagen, besser geht es nicht. Delphine de Vigan beherrscht für mich die Kunst, mit wenigen Worten viel auszudrücken. Auf knappen 180 Seiten erzählt sie nicht nur die Geschichte von Theo, dem Scheidungskind und dessen Freund Mathis. Nein, sie erzählt noch die Geschichte von Helene, der Lehrerin des Jungen, aber auch von Theos Eltern. Gleichzeitig beleuchtet sie auch noch Mathis‘ Eltern.
Sie macht das ganz geschickt, immer in kleinen Blenden. Dabei behandelt sie ihre Figuren mit allergrößtem Respekt. Sie zeigt, was sie sieht und lässt den Leser daran teilhaben. Aber nie führt sie ihre Protagonisten vor. Die Geschichten werden erzählt, die Wertung aber überlässt sie ihren Lesern. Diese Kunst beherrscht sie sehr gut.
Theo, 12 Jahre alt und Scheidungskind, lebt wochenweise bei der Mutter und dann bei seinem Vater, der arbeitslos ist und auf den Theo dann schon Acht gibt anstatt umgekehrt. Wieder einmal muss ein Kind die Fehler seiner Eltern ausbaden und nicht nur das, auch scheinbar heile Welten, wie die von Theos Freund Mathis, geraten mehr als nur ins Wanken. Und auch Helene, die Lehrerin der beiden Jungs, ist auch mit einer angeknacksten Seele ausgestattet.
Theo beginnt zu trinken und zieht seinen Freund Mathis mit hinein. Es ist seine Art, mit seinem Leben umzugehen. Seine Probleme im Grunde genommen zu ertränken. Dieses Buch ist eigentlich nichts für Sensibelchen. De Vigan macht das zwar sehr geschickt, zeigt den Teufelskreis, in welchem Theo gefangen ist, der viel zu früh erwachsen werden muss, weil er die Fehler seiner Eltern ausbaden muss. Helene möchte helfen, sie erkennt, das mit Theo etwas nicht stimmt, aber den wirklichen Grund erfährt so schnell niemand und selbst die, die es mitbekommen, schweigen aus Scham. Ein ganz starkes Buch zu einem sehr heiklen Thema. Es zeigt, wie schwer sich die Leute damit tun, eindeutige Zeichen zu deuten und zu handeln, nur, weil sie nicht willens und in der Lage sind, etwas ändern zu wollen, weil sie dafür ihren Wohlfühlkokon verlassen müssten.
Das Ende ist offen, und anders hätte dieses Buch auch nicht enden können. Der Leser darf sich gern die Geschichte weitererzählen.
Sprachlich mehr als gelungen, weil die Autorin zum einen immer an ihren Figuren bleibt, diese sehr schön gezeichnet hat. Und zum anderen verwendet sie eine Sprache, die einfach und bildreich ist. Und sie hat ein Thema angefasst, welches zu gern verschwiegen wird. Ein sehr mutiges Buch. Das auch nicht eine Sekunde lang gelangweilt hat. Und von dem es mehr geben müsste. Wieder einmal hat Delphine de Vigan gezeigt, dass sie eine der ganz großen Autorinnen, nicht nur Frankreichs, ist.