Ein Roman, der nachhallt

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mrsamy Avatar

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Er ist 12 Jahre alt, seine Welt versinkt im Chaos. So etwa könnte man die Lebenswirklichkeit des 12-Jährigen Théos bezeichnen, der im Mittelpunkt von Delphine de Vignans Roman „Loyalitäten“ steht. Seine Eltern trennten sich bereits vor Jahren und seither wohnt er abwechselnd je eine Woche lang bei seiner Mutter und seinem Vater. An sich nichts Ungewöhnliches im 21. Jahrhundert. Doch seine Eltern reden nicht mehr miteinander, seine Mutter blendet ihren Exmann derart aus, dass sie mit Théo nie auch nur ein Wort über seine Zeit bei seinem Vater spricht und sogar immer eine Weile braucht, bis sie Théo den Aufenthalt beim „Feind“ verziehen hat. So weiß sie auch nichts davon – und darf es auch nicht wissen -, dass ihr Exmann seine Arbeit verloren hat und sich langsam aber sich selbst zu verlieren droht. Die Wohnung vermüllt, er lässt sich gehen … Für Théo ist all das zu viel, er kann sich nicht allein um seinen Vater kümmern und die Abweisung der Mutter Woche für Woche ertragen. So findet er seinen Trost im Alkohol. Mit ihm kann er seine Sorgen und Probleme auslöschen und heimlich träumt er davon, soviel zu trinken, dass es ihm vollständig das Bewusstsein raubt.
Sein Wissen über den Alkohol hat er indes von seiner Klassenlehrerin Hélène, die bald erkennt, dass etwas mit Théo nicht stimmt. Sie versucht ihm irgendwie zu helfen, doch das ist nicht so einfach, wenn man keine Beweise hat und im Schulbetrieb nicht völlig aus der Rolle fallen will. Mathis, Théos bester Freund, merkt dagegen, dass ihm Théo immer mehr entgleitet. Doch wie soll er ihm helfen? Den Erwachsenen müsste man sich anvertrauen, doch seine Mutter mag Théo nicht und überhaupt benimmt sie sich in letzter Zeit sehr seltsam. Vielleicht kann er mit ihrer Lehrerin Hélène sprechen, aber würde sie nicht sofort Theos Eltern kontaktieren und käme dann nicht vielleicht auch die Geschichte mit seinem Vater an Licht?

„Loyalitäten“ ist ein herausragender Roman. Es ist ein Roman, wie es ihn nur selten gibt. Die gesamte vielschichtige Handlung wird auf gerade einmal 180 Seiten dem Leser präsentiert – und diese hat es in sich. Man erlebt das Geschehen aus verschiedenen Blickwinkeln – Mathis, Théo, Hélène, Mathis Mutter und Théos Mutter. Es sind meist nur sehr kurze Kapitel, die Einblick in die Beweggründe und Gefühlswelt der jeweils handelnden Person gibt und doch sind diese Einblicke ausreichend, um sich ein genaues Bild machen zu können. Vor allem wird erkennbar, dass es Loyalität ist, die uns zu unseren Handlungen und Nichthandlungen zwingt. Unsichtbare Regeln, die in uns verankert sind und die uns bestimmte Richtungen aufzwängen, auch dann noch, wenn wir spüren, dass sie unser Untergang sind. So erzählt Delphine de Vignan nicht nur von Loyalität, sondern auch von Liebe und Verpflichtungen. Théo wird geliebt, von seiner Mutter, seinem besten Freund und seiner Lehrerin. Und doch kann ihn diese Liebe nicht retten, sie wird viel mehr zu seinem Untergang. „Loyalitäten“ ist eine tragische Geschichte, in der sich jeder um den Posten des Helden bewirbt, an dessen Ende es aber doch nur Verlierer gibt. Delphine de Vignan hat einen Roman geschaffen, der noch lange in mir nachhallen wird, vor allem auch, weil er sprachlich eher leise und zurückhaltend ist.