Ein tragisches Schülerschicksal einfühlsam erzählt

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annajo Avatar

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Hélène ist Lehrerin. Zunehmend bemerkt sie Veränderungen an dem 12-jährigen Theo. Der sonst ruhige, aber gute Schüler wirkt zunehmend unbeteiligt und übermüdet. Doch als Lehrerin sind ihr die Hände gebunden und die Schulleitung reagiert nur zögerlich auf ihre Bitten, ein genaueres Auge auf ihn zu haben. Währenddessen trifft Theo sich mit seinem besten Freund in geheimen Ecken der Schule und trinkt zunehmend mehr Alkohol, Kommt Hélène hinter sein Geheimnis, bevor etwas Schlimmes passiert?

Delphine de Vigans neues Buch hat mich zutiefst berührt. Auf nur rund 180 Seiten erzählt sie eine intensive Geschichte vom Versagen von Eltern, ihre Kinder bedingungslos zu lieben; von einem System, das mehr Angst vor Regressansprüchen von Eltern hat, als dass seine Untätigkeit das Wohl eines Kindes gefährdet; von einem Kind, das von den Problemen der Erwachsenen heillos überfordert ist; und von einer Freundschaft unter Kindern, die uneingeschränkt loyal ist. In intelligenter Schreibe und aus drei verschiedenen Perspektiven beleuchtet die Autorin verschiedene Positionen in dieser Geschichte: die von Theo, die von Hélène und die der Mutter von Theos bestem Freund. Dadurch kennt man zwar schon vorab Theos Geheimnis, doch muss erstaunt feststellen, wie schwer es für das Umfeld ist, die Zeichen in diese Richtung richtig zu deuten. Und auch so bietet die Geschichte dennoch ausreichende Überraschungen. Die Geschichte geht sehr behutsam mit den Figuren um und behandelt das Thema sehr sensibel. Gerade dadurch wird es so eindringlich und die ganze Tragik des Geschehens bewusst. Die Autorin macht damit auf eine Thematik aufmerksam, die bislang meiner Meinung nach noch keinen prominenten Weg in die Erwachsenenliteratur gefunden hat, die aber unbedingt bewusst gemacht werden sollte. Ohne zu moralisieren zeigt die Autorin dabei auf, wo Versäumnisse geschehen und wo Handlungsmöglichkeiten bestünden, sowohl für ihre Figuren als auch im realen Leben.

Die Geschichte endet letztlich eher als eine Episode aus dem Alltag einer Lehrerin, aber auch aus dem tragischen Leben eines jungen Schülers. Das Ende können Pessimisten dabei in die eine, Optimisten in die andere Richtung deuten. Ich hätte mir hier gern noch ein paar Seiten mehr gewünscht. Andererseits gibt gerade das Ende dem Buch noch einmal Wucht und einen ziemlichen Effekt, sodass ich hierfür keine Abstriche vergeben möchte. Auf jeden Fall hat mich dieses Buch mit jeder Seite gepackt und berührt und ich empfehle es unbedingt weiter. Zum einen aufgrund seiner literarischen Qualität, aber auch aufgrund der absolut zeitgemäßen Thematik und der unglaublichen Einfühlsamkeit der Autorin.