‚Er schließt die Augen, alles ist weggewaschen, ja, und alles kann beginnen.‘

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sabatayn76 Avatar

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‚Er schließt die Augen, alles ist weggewaschen, ja, und alles kann beginnen.‘ (Seite 12)

Théo Lubin, ein schweigsamer, 12-jähriger Junge, wächst nach der Trennung seiner Eltern in wechselnder Obhut auf. Théo wird von seinen Eltern hin- und hergerissen, die den Konflikt miteinander über ihren Sohn austragen, er ‚ist die Geisel eines Konfliktes, der ihn verstummen lässt‘ (Interview mit Delphine de Vigan vom 18. Februar 2018 in ‚Marie-Claire‘).

Während Théos Mutter versucht, Kontrolle über die Situation und ihren Sohn zu behalten, verwahrlost Théos Vater, der arbeitslos geworden ist, das Haus nicht mehr verlässt und kaum noch am Leben teilnimmt, immer mehr, wird jedoch von Théo gedeckt, der sich ihm gegenüber bedingungslos loyal zeigt und allen anderen verheimlicht, wie schlecht es seinem Vater geht.

In der Schule und in den Wochen, in denen Théo bei seiner Mutter wohnt, verbringt Théo die meiste Zeit mit seinem Freund Mathis Guillaume, mit dem er heimlich Alkohol trinkt, wobei er die Dosis so lange steigern will, bis er endlich nichts mehr spürt.

Ich habe bereits ‚Tage ohne Hunger‘ von Delphine de Vigan mit großer Begeisterung gelesen und aus den Interviews mit der Autorin, die 2018 in ‚Marie-Claire‘ und ‚Les Inrockuptibles‘ erschienen sind, erfahren, dass nicht nur ‚Tage ohne Hunger‘ autobiografisch geprägt ist und de Vigans eigene Anorexia nervosa thematisiert, sondern dass auch ‚Loyalitäten‘ auf eigenen Erfahrungen der Autorin als Kind geschiedener Eltern basiert.

Ich fand es auch bei ihrem neuesten Buch beeindruckend und bemerkenswert, wie de Vigan auf so wenigen Seiten eine so überzeugende und komplexe Geschichte gelingt. Die verschiedenen Themen (der Rausch an sich, das Bedürfnis, sich zu berauschen, das angestrebte Vergessen, um das Leben besser - oder überhaupt - ertragen zu können, die Loyalität, die zwar gut gemeint, aber letztendlich verheerend und fatal ist) wurden von der Autorin auf einfühlsame und warmherzige, stets berührende und erschütternde Weise beschrieben, so dass mich ‚Loyalitäten‘ durchweg fesseln und begeistern konnte.

De Vigan erzählt in ‚Loyalitäten‘ aus verschiedenen Perspektiven von Liebe und Zuneigung, von Sucht und Auslöschung, von Gewalt und Vernachlässigung, von Versagen und dem Versuch, jemandem mit unerschütterlicher Loyalität zu helfen, für jemanden da zu sein, das Schlimmste abzuwenden.

Beim Lesen hat man von Anfang an das Gefühl, auf einen Abgrund zuzurasen, hat Angst, dass man den antizipierten Verlauf der Geschichte und die Wendungen kaum ertragen kann. Am Ende blieb bei mir nur ein Gefühl der Leere und des Verlorenseins, so dass ich erst einmal wieder in die echte Welt zurückfinden und die Geschichte verdauen musste.

‚Jeder wird in den Romanen de Vigans irgendwann einen Widerhall der eigenen Existenz finden.‘ (Interview mit Delphine de Vigan vom 18. Februar 2018 in ‚Marie-Claire‘)