Sozialkritik in Romanform

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petris Avatar

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„Loyalitäten: (…) Das sind die Sprungbretter, auf denen sich unsere Kräfte entfalten, und die Gruben, in denen wir unsere Träume begraben.“ S. 5

Mit diesem ersten Abschnitt und diesem letzten Satz hatte mich die Autorin schon in den Bann gezogen, und ich wusste, dies war ein Roman, den ich lesen musste. So konnte ich ihn dann auch nicht mehr aus der Hand legen und las ihn ziemlich schnell zu Ende.

Théos Eltern sind getrennt, sie teilen sich das Sorgerecht. Nach außen sieht alles in Ordnung aus, doch im Inneren zerbricht seine Mutter an der Bitterkeit und dem Hass auf den Vater und sein Vater hat sein Leben schon lange nicht mehr im Griff. Niemand weiß davon, nur Théo, er versucht, seinen Schmerz im Alkohol zu ertränken. Alles vergessen, ins Koma fallen. Das ist sein Ziel. Dabei ist er erst 12. Nur seine Lehrerin Hélène merkt, dass etwas nicht stimmt. Doch sie ist zu sehr in ihrer eigenen schweren Kindheit gefangen, als dass sie genau erkennen würde, was das Problem ist.
Mathis, der beste Freund Théos weiß Bescheid. Er macht mit beim Trinken, macht sich aber Sorgen um Théo. Doch auch in seiner Familie gibt es Probleme, niemanden, den er zu Rate ziehen könnte.

De Vigan erzählt hier keine schöne Geschichte, die Menschen sind alle verletzt und einsam und mit sich beschäftigt. Wer auf der Strecke bleibt sind die Kinder, denn sie sind loyal bis zum bitteren Ende. Hart, aber ohne sehnsationslüsterne Grausamkeit schreibt die Autorin über die beiden Jungen und ihre Eltern, sowie über ihre Lehrerin. Und auch wenn die Situation verfahren scheint, man die Erwachsenen (vor allem auch die anderen Lehrer) rütteln möchte, dass endlich jemand genauer hinsieht, schimmert immer ein wenig Hoffnung durch. Vielleicht ist die Eskalation am Ende gleichzeitig auch ein Neuanfang.

Ich mag De Vigans sozialkritische Romane, ich mag ihren kritischen, ehrlichen Blick und ich bin fasziniert von ihrer Sprache. Ein Roman, der mich berührt, begeistert und zum Nachdenken gebracht hat. Für mich ein Highlight dieses Bücherjahres!