Unsere Flügel und unsere Fesseln

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jenvo82 Avatar

Von

„Übrigens seltsam, dieses Gefühl einer Besänftigung, wenn schließlich das hervorkommt, was man nie sehen wollte, obwohl man wusste, dass es ganz in der Nähe vergraben war, dieses Gefühl von Erleichterung, wenn sich das Schlimmste bestätigt.“


Inhalt


Ausgehend von der Erzählung der Lehrerin Hélène lernen wir den 12-jährigen Theo Lubin kennen, er lebt jeweils eine Woche beim Vater und die andere bei seiner Mutter. In der Schule ist er ein stiller Junge, der nur einen einzigen Freund hat und mit dem all seine Zeit verbringt. Hélène beobachtet ihre Schüler sehr genau und entdeckt an Theo Veränderungen, die niemand sonst sehen will. Der Junge scheint ein echtes Problem zu haben, und sie möchte ihm gerne helfen, doch Theo lässt sich darauf nicht ein, immer wieder beteuert er Erwachsenen gegenüber einfach nur müde zu sein und unter Schlafstörungen zu leiden. Körperliche Verletzungen kann nicht einmal die Schulschwester entdecken und der Lehrerin sind gewissermaßen die Hände gebunden. Es bleibt ihr nicht viel mehr, als den Jungen weiter zu beobachten und das Gespräch mit den Eltern zu suchen.

Mathis, Theos Freund weiß, was ihn wirklich bedrückt, doch er möchte ihn nicht verraten, will nicht erzählen, dass Theos Vater immer mehr abrutscht und der Sohn alles vertuschen muss, damit sein imaginäres Familienmodell nicht einstürzt. Im Alkohol versucht Theo all sein Leid zu vergessen, er möchte nur einmal die Schwelle zum Koma überschreiten, abtauchen und von jeder Last befreit sein. Die einzige die den Alkoholmissbrauch der Jungen bemerkt ist die Mutter von Mathis, doch diese hadert mit dem eigenen Leben und bringt nicht die Kraft auf, auch noch den Freund des Sohnes aus dem Sumpf zu holen. Und so nimmt ein gefährliches Spiel seinen Lauf …


Meinung


Die preisgekrönte französische Autorin Delphine de Vigan greift in ihrem aktuellen Roman ein Tabuthema auf, ohne jedoch weiter auf das Phänomen des Alkoholmissbrauchs unter Jugendlichen einzugehen.


Sie setzt ihr Augenmerk vielmehr auf die zwischenmenschliche Komponente, die zeigt, wie dicht und komplex das Beziehungsgeflecht diverser Personengruppen ist und wie schwierig es für den Einzelnen ist, eine falsche Entwicklung nicht nur zu erkennen, sondern vor allem aufzuhalten. Der Titel des Buches ist sehr treffend gewählt, denn Loyalitäten können zwar einerseits Flügel verleihen, weil sie Kräfte entfalten, die nur mit Treue und Hingabe erreichbar sind, doch sie können ebenso vernichtend wirken, wenn man in schwierigen Situationen derart an seine Versprechungen gebunden ist, dass es schier unmöglich wird, einen Schlussstrich zu ziehen.


Dieser Roman hat mich irgendwie geplättet, nicht nur auf Grund der bemerkenswerten, durchaus ungewöhnlichen Thematik, die hier sehr einprägsam beschrieben wird, sondern vielmehr wegen seiner Perspektivenvielfalt und der Verflechtung einzelner Lebenswege. Manchmal sind es eher die Banalitäten, die so immense Bedrückung auslösen. Ein Trennungskind zu sein, ist keine Schande, doch zum Spielball zwischen den zerstrittenen Elternteilen zu werden eine echte Last. Noch schlimmer, wenn die Eltern nicht mehr in der Lage sind, ihr Kind als das wahrzunehmen, was es ist, wenn sie selbst in einem Sumpf aus Vorwürfen und Abgründen versinken.


Und dann natürlich das Unvermögen, sich als Kind aus dieser Situation zu befreien, ohne andere Menschen mit hineinzuziehen, ohne jemanden zu verletzen, ohne Hilfe für sich selbst beanspruchen zu wollen. Der Leser entdeckt Theo immer wieder neu, in jedem Satz und sieht ihn doch nach und nach Verschwinden, sieht seinen persönlichen Weg des Abschiednehmens von der Normalität. Gleichzeitig wird auch die Berührungsachse mit seinen Mitmenschen sichtbar, die eben jene Entwicklung immer wieder verdrängen, ihr kaum Bedeutung beimessen und sie schönreden. Ganz nach dem Motto: „Ein Junge, der keine Probleme macht, kann auch keine haben.“ Der fatale Verlauf des Geschehens macht wiederrum deutlich, welch Trugschluss sich dahinter verbirgt.


Auf erschreckend ehrliche Art und Weise vermag es die Autorin, den Leser in eine sehr alltägliche Situation hineinzumanövrieren, die sich fast nebenbei ergibt. Kleinere Unstimmigkeiten bringen doch keine Welt zu Fall! Nur gelingt es ihr ganz hervorragend, diese einfache Sicht auf die Dinge zu widerlegen, ihr eine Dominanz zu verleihen, die danach schreit, Gehör zu finden, ohne jemals laut zu werden. Der Roman sensibilisiert, bereitet Bauchschmerzen, lässt Mitleid wachsen und Verständnis keimen, weckt Hoffnungen und rüttelt wach. Sehr faszinierend, ausgesprochen einprägsam und vernichtend in der Gesamtaussage: „Was macht das Menschsein aus, wenn jeder nur wegschaut und die Schwachen aus dem eigenen Gedankengut verbannt, wenn Kinder keine Kraft mehr haben, wenn niemand mehr zuhört und keiner nachfragt?“


Fazit


Von mir gibt es eindeutig 5 begeisterte Lesesterne für diesen wachrüttelnden, sozialkritischen Roman, der Realitäten einfängt und Missstände aufdeckt. Ein nahezu perfektes Buch, bei dem jeder Satz wirkt und jede Handlung eine Lawine an Reaktionen auslöst. Die Kommunikation oder auch ihr Fehlen ist neben vielen persönlichen Verfehlungen die Spitze des Eisberges, bei dem es allerdings existentiell erscheint, ihn in all seinen Schichten abzutragen, wenn man jemals zum Kern gelangen möchte. Mein Tipp: Lest dieses Buch und geht aufmerksamer durch die Welt!