Wer etwas für seine literarische Seele tun will, der lese dieses Buch.

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"Übrigens seltsam, dieses Gefühl einer Besänftigung, wenn schließlich das hervorkommt, was man nie sehen wollte, obwohl man wusste, dass es ganz in der Nähe vergraben war, dieses Gefühl von Erleichterung, wenn sich das Schlimmste bestätigt."


Théo ist ein guter Schüler, unauffällig aber von seinen Mitschülern respektiert. In letzter Zeit wirkt er zwar etwas müder und unkonzentrierter, aber das ist ja normal im Zeitalter der Computerbildschirme und Smartphones. Einzig die Biologielehrerin Hélène bemerkt die ungute Veränderung, die in Théo vor sich geht, bekommt diese aber nicht zu fassen. Denn Théo trinkt Alkohol, viel Alkohol, um den Schmerz zu vergessen, und sein bester Freund Mathis traut sich nicht, ihm zu widersprechen oder sich jemandem anzuvertrauen. Und so steuert Théo unaufhaltsam und mit vollem Bewusstsein auf den Abgrund zu.

Delphine de Vigan - Meisterin der Worte, Analystin zwischenmenschlicher Beziehungen und Abhängigkeiten, Versteherin menschlicher Verstrickungen. In diesem Buch beweist sie wie in keinem anderen, was sie mit Worten zu tun vermag. Gefesselt hing ich an ihren imaginären Lippen, konnte kaum aufhören, hatte das Gefühl, viel mehr als knappe 170 Seiten gelesen zu haben. Denn de Vigan füllt diese Seiten mit so großen menschlichen Tragödien, mit so vielen verwobenen Geschichten, dass die Komplexität kaum zu beschreiben ist.

Delphine de Vigan findet Worte, Bilder, Metaphern, die ins Innerste treffen und mich Sätze mehrfach haben lesen lassen. Nach und nach erkennt man, was Théo in dieses Unheil stürzt, versteht auch die Beweggründe der anderen Figuren, als wären es die eigenen, kann sich ein emotionales Gesamtbild dieser Situation machen, die es so eigentlich gar nicht geben sollte. Denn de Vigan beschäftigt sich immer mit den unangenehmen, den schmerzhaften Fragen - psychisch Kranke, Magersüchtige, und nun ein alkoholkrankes Kind. Das tut weh.

Ihren Finger hat die Autorin immer am Puls ihrer Figuren. Kein Gedanke ist überflüssig, keine Handlung unlogisch, kein Satz ist zu viel. Das kommt nur zustande, indem de Vigan ein psychologisches Profil ihrer Figuren erstellt, das jedem Experten sein Handwerk erklären könnte. Abwechselnd erzählen Théo, Mathis, Hélène und Mathis' Mutter Cécile, und immer liegt das menschliche Drama ganz nah bei menschlicher Liebe. Und vor allem spricht eines aus diesem Buch - die Hoffnung, dass es besser werden kann.

Delphine de Vigan ist erneut ein Meisterwerk gelungen. Die Thematik verbeißt sich schmerzhaft in der Seele, und das nur, weil die Figuren wirken, als könnten sie gleich aus dem Buch steigen. Detailreich aber niemals ausschweifend, bunt aber niemals blumig, melancholisch aber niemals schwer - so schreibt de Vigan. Wer etwas für seine literarische Seele tun will, der lese dieses Buch.