Wie weit geht man aus Loyalität?

Schriftstellerisch ist dieses Buch etwas Besonderes. Der sprachliche Stil ist eher anspruchsvoll und hat mir sehr gut gefallen. In Perspektivwechseln kommen abwechselnd die Frauen Hélène (Lehrerin) und Cécile (Mathis Mutter) in der Ich-Perspektive sowie die Jungen Théo und Mathis in der 3. Person zu Wort. Die Kapitel sind kurz und gewähren jeweils häppchenweise Einblicke in die Geschehnisse und die Gefühle der Protagonisten. Die Erzählung geht nahe, insbesondere Théos Schicksal und sein Umgang damit macht betroffen. Doch auch die anderen Figuren habe ihre Päckchen zu tragen: Hélène, die Théo unbedingt helfen will, obwohl sie nicht genau weiß, was los ist und sich in ihre eigene, traumatische Kindheit zurückversetzt fühlt. Cécile, die Théos schlechten Einfluss auf ihren Sohn Mathis fürchtet und gleichzeitig im eigenen Haus ein Geheimnis entdeckt. Mathis, der Théos einziger Freund ist und eigentlich aus der Sache mit dem Alkohol raus will. Aber kann man das, wenn man befreundet ist? Und was passiert mit dem Freund, der sonst niemanden hat, wenn man ihn nun auch noch verlässt? Die innere Zerrissenheit aller Protagonisten ist durchgängig spürbar. Für mich waren vor allem ein Gefühl der Ohnmacht und die Hilflosigkeit der Erwachsenen vorherrschend. Es macht deutlich, wie limitiert letztlich deren Einfluss ist. Außerdem geht es auch um Verantwortung, die jeder Protagonist auf seine Weise hat und unterschiedlich auslebt. Ich bewundere die Autorin dafür, auf so wenigen Seiten eine so umfassende Geschichte mit authentischen Protagonisten erzählen zu können, die einen nicht kalt lassen.
Das Ende ist eher abrupt und offen. Es hat mich nicht direkt gestört, weil die Geschichte insgesamt so berührt, auch wenn ich mir etwas mehr Abschluss für die Protagonisten gewünscht hätte. Aber so kann ich in meinem Optimismus selbst die Geschichte weiter spinnen - auch nicht schlecht.

Fazit:
Wow! Welch komplexe, berührende Geschichte auf so wenigen Seiten. Ich möchte mehr von dieser Autorin lesen!