Zu schwere Lasten für ein Kind

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emmmbeee Avatar

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Wenn die elterliche Obhut über ein Kind wechselweise ausgeübt wird, kann es nicht ausbleiben, dass dieser junge, unfertige Mensch es beiden Seiten recht machen will. Im vorliegenden Fall ist das Théo, der wochenweise abwechselnd zwischen seinen Eltern laviert und mit deren Problemen, mit Kälte und Lieblosigkeit konfrontiert wird. Um mit den Lasten auf seinen schmalen Schultern besser fertig zu werden, sucht er in hochprozentigem Alkohol Betäubung und Wärme. Ganz allein ist er dabei nicht, denn sein einziger Freund, Mathis, macht in geringerem Mass mit und besorgt sogar über seinen älteren Bruder den Schnaps.
Nur eine der Lehrerinnen, in ihrer Kindheit selbst schwer misshandelt und somit ein gebranntes Kind, spürt hinter der zunehmenden Beeinträchtigung Théos im Unterricht einen ernstzunehmenden, wenn auch unbekannten Faktor, findet in der Kollegenschaft aber kein Gehör.
Da Mathis ein treuer Freund ist, ist er Théo gegenüber unbedingt loyal. Dieser wiederum deckt die massiven Schwächen seines Vaters und verhält sich der eifersüchtigen Mutter gegenüber unauffällig. Auch die Eltern von Mathis haben einiges zu verbergen, und doch verrät keiner den andern. Beide Elternpaare bemühen sich und wollen alles richtig machen, dennoch befinden sie sich offenbar auf dem Holzweg und lassen ihre Söhne im Stich. Unter dieser Last muss Théo zwangläufig zusammenbrechen, und es kommt zum Eklat.
Wenn es um die Verteilung der Sympathien geht, tue ich mir schwer. Mitleid verdienen fast alle Personen, denn niemand will Fehler machen und kann sie doch nicht verhindern. Sehr passend ist das Coverbild, dessen ineinander verwobene Streifen die loyalen Verstrickungen zwischen Théo und seiner nächsten Umgebung verdeutlichen.
Delphine de Vigan greift in ihren Werken immer wieder heikle, aber hochaktuelle Themen auf. Ihre Sprache ist gekonnt unaufgeregt und nüchtern, vermag den Leser in seinem Innersten aber sofort zu fesseln. Indem sie die Hauptpersonen abwechselnd zu Wort kommen lässt, erhält man Einblick in mehrere Personen. Die fortschreitende Handlung nimmt immer mehr Fahrt auf, und die Spannung wird gegen Schluss fast unerträglich. Man weiss ja, dass Théo rasant ins Unglück schlittern wird.
Ein Roman, bei dem man sich fragt, wie viele solcher Kinder es in unserer Nähe gibt. Ganz bestimmt mehr, als wir denken.