4,5 Sterne für jede Menge Deutsch-Deutsche Geschichte

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elke seifried Avatar

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Die vierunddreißigjährige Jana Seliger lebt im Jetzt, vielmehr im Jahr 2011, mit ihrer Familie im alten Haus ihrer Großeltern in Osterholz. Die erfolgreiche Geschäftsfrau und Mutter von Zwillingen, deren Mann oft auf Geschäftsreisen ist, bekommt Post von der Stasiunterlagenbehörde. Vor neun Jahren hatte sie Akteneinsicht in die Stasi Akte ihrer Mutter, vielmehr ihrer Adoptivmutter, beantragt, die bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Wird sie nun endlich erfahren, ob sie sie absichtlich allein gelassen, tatsächlich Selbstmord begangen hat, es doch ein Unfall war, und darüber hinaus vielleicht sogar eine Information über ihre leibliche Mutter erhalten? Bevor Jana und damit der Leser jedoch Einsicht in die Akte nehmen können, wird man erst einmal ins Osterholz von 1964 zurückkatapultiert und darf Mutter Leonore kennenlernen. Man erfährt vom Verhältnis zu den Eltern, Janas Opa Henri und Oma Margo, deren politischer Einstellung und begleitet Leonore beim Aufwachsen, beim Studium, beim Alltagsleben, das klar auch durch die zeitgeschichtlichen Gegebenheiten geprägt ist. Jungendtreffs mit Beatles und Joints, ein Aufenthalt in London mit Flower Power und Make Love not War, Demos, wie z.B. „das mit Vietnam ging nicht. Am schlimmsten fand sie den Einsatz chemischer Waffen. Die Amis besprühten die Wälder mit Agent Orange, damit sie ihr Laub verloren und die Zivilbevölkerung nicht mehr schützen konnten. Das schien überhaupt der Hauptzweck dieses Krieges zu sein“ und auch mit den Genossen der RAF bekommt man durch Leonore unabsichtlich Kontakt. Man erfährt einiges, was die Menschen bewegt ha. Die Explosion der Challenger, die ersten Grünen im Bundestag, das Waldsterben, Tschernobyl, die Katastrophe die alle in Angst und Schrecken versetzt, Wein, der mit Glykol gepanscht wird, Steffi Graf und Boris Becker, die in Wimbledon glänzen, sind nur einige Beispiele dafür und klar darf auch der Mauerfall nicht fehlen, familiär auch die Adoption von Jana nicht.

Gleich zu Beginn erfährt man auch von der zweiten Hauptprotagonistin „Clara war ihr ein Rätsel. Leo hatte sie im vergangenen Sommer kennengelernt, im Ferienlager mit dem etwas seltsamen Namen »Pionierrepublik Wilhelm Pieck«. In der DDR, in diesem schrecklichen Unrechtsstaat, wie ihr Vater zu schimpfen pflegte.“, weiß schnell um Claras Gesinnung, dem Staat dienen zu wollen, und deren Beziehung zueinander, „Clara war groß, schlank, mit schmalen Händen und graublauen Augen. Man konnte eigentlich nicht behaupten, dass sie enge Freundinnen geworden wären. Wie auch? Clara war vier Jahre älter, sie war 1963 Delegierte beim FDJ-Parlament in Berlin gewesen, was die anderen sich hinter ihrem Rücken mit einer Mischung aus Hochachtung und Neid erzählten.“. Eine lose Brieffreundschaft entsteht, mehr? Man weiß es nicht, und muss sich die ersten gut zweihundert Seiten erst einmal gedulden, bis man die Geschichte aus deren Sicht erzählt bekommt. In einem letzten Teil heißt es dann noch zu erforschen, ob ihre Befürchtungen wahr werden, „Was, wenn bei Leonores Tod die Stasi ihre Finger im Spiel hatte?« Sie starrte ihn an. Er wusste also, was sie insgeheim befürchtete. »Was, wenn deine leibliche Mutter dahintersteckt?“. Mehr will ich gar nicht über den Inhalt verraten.

Cora Stephan vermag sich gekonnt auszudrücken. Zerplatzte Träume, Parolen an die niemand mehr glaubt, werden da schon mal mit „Ein Pieks, und die Sprachballons landeten verschrumpelt im Dreck.“, erste Ernüchterungen nach dem Mauerfall, „wie etwa Stefan Heym, der dem Volk in einem Essay im Spiegel bescheinigte, »eine Horde von Wütigen zu sein«, auf der Jagd nach glitzerndem Tinnef. Verrat am Sozialismus, witterten sie, Ost wie West. Niemand mochte so recht den Sieg des Westens oder gar des Kapitalismus feiern. »Wahnsinn« war innerhalb von Wochen kein Glückszustand mehr, sondern Verhängnis.“, beschrieben. Sie lässt ihre Protagonisten eine deutliche Sprache sprechen, „Aber hatte man ahnen können, wie viele Genossen es sich im Handumdrehen im System des einst verhassten Klassenfeindes gemütlich machten?“, was mir gut gefallen hat. Obwohl sie sich nicht immer einfachster Sprache bedient, »Und das hältst du für konkludent?«, und Fachbegriffe wie „Potemkinsche Dörfer“, „Revanchismus“ oder „Renegaten“ keine Seltenheit sind, lässt sich der Stil leicht und äußerst flüssig lesen. Stellenweise stellten sich bei mir beim Lesen jedoch auch immer wieder Längen ein, wenn z.B. Alltagsleben doch äußerst detailliert dargestellt wird. Ein Aufräumen nach einer Party z.B. hätte ich nicht so genau erzählt gebraucht, das Einrichten einer Wohnung vielleicht auch nicht, wobei sich aber da auch immer wieder interessante Informationen versteckt haben. Ikea Möbel, die z.B. in DDR Gefängnissen gefertigt wurden, werden da schon mal aufgebaut. Diese Tatsache hat mich auch stets am Ball gehalten hat. Etwas ungeduldig wurde ich, da man von Clara gut zweihundert Seiten fast gar nichts erfährt, die beiden Perspektiven nicht parallel, sondern nacheinander erzählt werden. Spannung entsteht kurz vor dem Übergang der beiden Teile, da habe ich gebannt gelesen und auch der dritte Teil, in dem aufgeklärt wird, wer Leonore bespitzelt, ob es sich um einen Unfall handelte, und in dem auch noch sonst mit einigen familiären Tragödien aufgeräumt wird, hat mich richtig gefesselt.

Gut hat mir auch gefallen, dass ich auch zahlreiche Details, die mir bisher unbekannt waren, erfahren habe. Ich bin im Westen aufgewachsen, war noch Kind als die Mauer fiel, Dinge wie z.B. »Wusstest du, dass die Stasi die Straßenkarten manipuliert hat, damit der Feind sich verirrt, sollte er auf die dumme Idee kommen, ins Heimatland des Sozialismus einzumarschieren?«,waren mir bisher unbekannt. Auch den Blick auf die Treuhand Geschäfte nach dem Mauerfall oder die Westspitzel der DDR fand ich äußerst interessant.



Deutsch-Deutsche Geschichte, ein Thema, das mich sehr interessiert und deshalb hat mich die Buchbeschreibung sofort angesprochen. Dass es sich bei dem Titel um einen zweiten Teil einer Familiengeschichte handelt, wusste ich nicht. Ganz besonders anfangs hatte ich ein wenig Probleme, die Familienverhältnisse, die Namen samt ihrer Spitznamen richtig einordnen zu können, das hat sich aber schnell gelegt. Empfehlenswert wäre sicher mit dem ersten Teil zu starten, damit würde sich bestimmt die eine oder andere Einstellung besser einschätzen lassen, es war mir aber auch möglich ohne Vorkenntnisse zu lesen.

Das Hauptgewicht liegt sicher auf Leonore, die mit ihren Sorgen und Ängsten eindrücklich gezeichnet ist. Clara ist im Gegensatz zu ihr für mich eher ein wenig blass geblieben, bzw. hat erst auf den letzten Seiten ein solches Profil erreicht, dass ich richtig mit ihr gelebt habe. Die Figuren, die deren beider Wege kreuzen, sind authentisch dargestellt und bieten auch einen kleinen Querschnitt durch die damalige Bevölkerung.

Alles in allem habe ich zwar beim Lesen durchaus die eine oder andere Länge verspürt, die aber meist wieder schnell verflogen ist. Aufgrund des vielen interessanten Details und auch dem fesselnden Finale, runde ich 4,5 Sterne zu fünf auf.