Offener Schlagabtausch

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Auf den ersten Seiten von John Le Carrés „Marionetten“ geht es noch hauptsächlich um Melik Oktay, seine Mutter Leila und den 23Jährigen Issa aus Tschetschenien, der waghalsig aus seiner Heimat geflohen ist und nun bei Melik und seiner Mutter unterkommt. Die drei Personen werden sehr ausführlich beschrieben, sowohl was ihr Äußeres betrifft als auch ihre Denk- und Handlungsweise, was dem Leser schon vorahnen lässt auf welchen Konflikt die Geschichte hinauslaufen wird. Doch nach dem ersten Kapitel geraten Melik und seine Mutter völlig in den Hintergrund und auch von Issa wird nur noch in Form von „Operation Felix“ gesprochen.

Etwas an das ich mich als Leser nur schwer gewöhnen konnte- hatte ich doch schließlich bereits eine eigene, persönliche Beziehung zu den Figuren aufgebaut. Mit Brue dem Bankier und der Anwältin Annabelle Richter kommen nun immer neue Personen ins Spiel, die alle ihre eigene Theorie und ihre eigene, teils verbissene Meinung haben. Die Angst vor einer islamitischen Bedrohung, die zweifelsohne seit dem 11. September vorhanden ist wird zum Spielball der verschiedenen Geheimdienste, deren Mitarbeiter verschleiert, fast düster beschrieben werden, was den Leser von Anfang an nichts Gutes ahnen lässt. Das Marionettentheater dreht sich immer schneller und am Ende steht dann nicht nur der Leser mit drei Fragezeichen über dem Kopf dar. So treffend wie Meliks Hobby, das Boxen für seine Darstellung ist, so passend ist es auch für die gesamten Handlungsstränge in Marionetten: Jeder Handlung, jeder Tat folgt eine Weitere und die Geheimdienste leisten sich einen offenen Schlagabtausch. Sie konkurrieren, sie behindern sich gegenseitig oder sie loben sich nicht ohne Eigennutz gegenseitig in den Himmel. Es ist beängstigend wie blind und korrupt Geheimdienste, Polizei und Politik vorgehen können und somit einen oder gleich mehrere Menschen an den Abgrund treiben können. Muss man wirklich individuelle Opfer bringen um das Kollektiv zu bewahren? Ein 13Jähriger Junge, der bereits in der Schule vom Staat observiert wurde und den Behörden jedes kleinste Detail seiner Familie bekannt ist, ist nur ein Beispiel.

Am ziemlich offenen Ende des Romans ist niemand mehr Herr der Lage, am wenigsten der Leser, hofft, zittert und bangt er doch über knapp 400 Seiten lang mit Issa mit. Der Titel für den Roman hätte nicht treffender gewählt werden können und es wird einem bewusst wie wenig „Macht“ sowie Handlungs- und Entscheidungsfreiheit man tatsächlich hat. Bereits während des Lesens kam mir immer wieder ein bekanntes Sprichwort in den Sinn: „Noch schlimmer als nicht frei zu sein, ist zu glauben man wäre frei.“