Feministische Fantasie des mittelalterlichen Lebens

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„Denn es ist eine zutiefst menschliche Wahrheit, dass die meisten Seelen auf Erden erst dann Ruhe finden, wenn sie sich in den Händen einer Macht wissen, die weit größer ist als sie selbst.“

Die Autorin Lauren Groff, geboren 1978, konnte in den vergangenen Jahren bereits mit ihrem Roman „Licht und Zorn“ einen der größten Erfolge der amerikanischen Literatur feiern. Er stand ebenso wie ihre Erzählungen und dem neuesten Roman „Matrix“ auf der Shortlist des National Book Award. Heute erscheint dieses besondere Werk, das das Leben von Marie de France fiktionalisiert und historische Details zugunsten einer eigenen Version der Geschichte verwirft. Entstanden ist ein fiktiv-historischer Roman, mehr feministische Fantasie, als genaues Abbild des mittelalterlichen Lebens, meisterlich übersetzt von Stefanie Jacobs.

Im Jahr 1158 wird die große und unbeholfene Marie, damals erst 17 Jahre alt, vom königlichen Hof verstoßen. Königin Eleonore von Aquitanien schickt das Mädchen trotz aller Beteuerungen und ihres Mangels an göttlicher Berufung in eine verfallene und verarmte englische Abtei, um dort Priorin zu werden. Obgleich von der Strenge und Armut des Lebens an diesem vergessenen Ort überwältigt, fügt sich Marie nach anfänglichen Schwierigkeiten doch schnell in den Rhythmus der Schwestern ein. Als gebildete Frau, die Bücher führen und in vier Sprachen schreiben kann, ist sie entschlossen das Kloster für die Nonnen umzugestalten und deren Leben dauerhaft zu schützen.

Lauren Groff erschafft in „Matrix“ eine Version der Marie de France, die sie zum Prototyp der modernen Frau stilisiert: klug, kühn, weitsichtig – und selbstbestimmt. Eigenschaften, die sie gut zu nutzen weiß, um ihre Protagonistin die gebotenen Chancen ergreifen zu lassen und sie das höchste Amt sowie die damit einhergehende Macht in der Abtei, nicht nur zu sichern, sondern auch über 50 Jahre zu halten. Während dieser Phase durchlebt auch das einst marode und baufällige Kloster eine Metamorphose und verwandelt sich in ein blühendes, sich selbst versorgendes Anwesen, das sich mit Obst, Gemüse und Vieh trägt. Hier liegt meiner Meinung nach auch die größte Stärke des Buches: Die Abtei ist nur ein Sinnbild ihrer Zeit, eine Institution, die von Menschen – meist Männern – geleitet wird und die andere Menschen – meist Frauen – benachteiligt – unabhängig und völlig losgelöst von jedem göttlichen Eingreifen. Diese Spannung wird vor allem zwischen Maries relativer Ungläubigkeit und ihrer gleichzeitigen Fähigkeit, die Abtei von Armut zum Wohlstand zu führen, stilisiert.

Teilweise mäandernd, aber figürlich distanziert, entwirft Groff insgesamt eine sehr lesenswerte, lebendig gestaltete Geschichte, die ein Leben für eine Figur erfindet, über die bisher nicht viel bekannt ist, die aber nachweislich einen großen Einfluss im Weltgeschehen hatte. Eine feministisch-historische Lektüre und ein besonderes Lesevergnügen!