Anrührende wahre Geschichte einer Suche

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marionhh Avatar

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Der 5jährige Saroo lebt in einer Kleinstadt im westlichen Indien. Die Mutter muss ihre vier Kinder alleine durchbringen und arbeitet hart, die Kinder sind viel alleine. Die drei Jungen stromern viel umher, betteln, stehlen oder versuchen sonst auf irgendeine Art und Weise, zu Essen zu kommen. Eines Tages schläft Saroo in einem Zug ein und wacht erst wieder auf, als dieser sich in Bewegung gesetzt hat – mit unbekanntem Ziel. Saroo findet sich in Kalkutta wieder, der 4,5 Millionen Metropole in Ostindien. Für ihn beginnt ein Überlebenskampf auf der Straße, der ihn schließlich über Waisenhäuser zu einer Adoptivfamilie im australischen Hobart führt. Er erlebt eine glückliche Kindheit und Jugend, doch immer wieder fragt er sich, wo er eigentlich herkommt. Seine Ursprungsfamilie, an die er intensive Erinnerungen hat, lässt ihn nicht los. Er beginnt zu recherchieren, und das Unglaubliche geschieht: Mit Hilfe von Google Earth und nach Jahren der Suche erkennt er seinen Heimatort wieder und macht sich schließlich auf die Suche nach seiner Mutter und seinen Geschwistern.

Eine unglaubliche Geschichte, ein Märchen, das umso tiefer unter die Haut geht, weil es wahr ist! Saroo schreibt in einfachen Sätzen und Worten, eben so wie ein Kind denkt und fühlt, und man spürt sowohl seine Verzweiflung als auch sein Glück. Es ist schier unfassbar, wie er überlebt in einem Moloch, in dem die Menschen entweder gleichgültig sind oder Kindern schlichtweg übel wollen. Der Leser erfährt aber auch viel – und das fand ich besonders interessant – über eine Welt, die unserer so fremd ist wie etwas nur sein kann, und über das wirkliche Leben in Indien, über die Armut, aber auch das Glück der Familien, einander zu haben. Obwohl man auch das Gefühl hat, dass ein Menschen- und besonders ein Kinderleben nicht viel gilt, erkennt man doch, dass es großen Zusammenhalt in den Familien und Stadtvierteln und auch viel Hilfsbereitschaft gibt.

Dass Saroo als 5jähriger allein überleben kann, erscheint uns komplett unglaublich, doch das Leben der Kinder aus armen Familien ist mit dem unseren nicht zu vergleichen. Die Mutter ist oft mehrere Tage weg um zu arbeiten, und die Kinder müssen sich selbst um ihr Essen kümmern, lesen und schreiben oder sonstige Schulbildung ist schlichtweg nicht machbar. Das Leben ist ein einziger Überlebenskampf, und so schlimm es klingt, so kommt dies Saroo in Kalkutta zu Gute. Sein Verstand und mehr noch sein Instinkt helfen ihm zu überleben, und er bleibt Fremden gegenüber oft misstrauisch. Das bewahrt ihn mehr als einmal vor Schlimmerem. Trotz seiner jungen Jahre und Unerfahrenheit hat er eine gute Menschenkenntnis, und so vertraut er sich dann doch einem Teenager an, der ihn zur Polizei bringt. So gelangt er schließlich in Waisenhäuser, und da man seine Familie nicht ausfindig machen kann, wird er zur Adoption frei gegeben. Hier muss er – ein kleiner Junge! – die Entscheidung treffen, ob er zu fremden Menschen in ein fremdes Land möchte, und er entscheidet sich dafür.

Als Leser ist man zwiegespalten: Ist es nicht besser, er wäre zu seiner eigenen Familie zurück gekommen, die ihn liebt und vermisst? Andererseits: Was für Möglichkeiten hätte er da gehabt, und er fand in seinen Adoptiveltern liebe- und verständnisvolle Eltern, die ihm alles gaben, was er für ein glückliches Leben braucht. Dass er seine Ursprungsfamilie nie vergessen konnte, spricht für eine große emotionale Bindung, und er versucht in seiner Kindheit und Jugend, die Erinnerungen und Bilder im Kopf nie zu verlieren. Mehr als einmal verzweifelt er an der fast unmöglichen Suche nach seinem Heimatort, eine Suche, die schwieriger ist als die berühmte Nadel im Heuhaufen. Wie lebt man mit ihm mit, nicht nur bei seinem Kampf ums Überleben, mehr noch bei seiner Suche, und als er dann tatsächlich findet, was er sucht – zuerst seinen Geburtsort, dann auch tatsächlich seine Familie - freut man sich fast genauso sehr wie er!

Seine Beschreibung über sein Leben in Indien, das stellvertretend für das Milliarden anderer steht, ist recht erschütternd, obwohl er auch sicherlich viele schöne Momente erlebt hat. Für uns jedoch ist es eine fremde Kultur, über die man per se wenig weiß, und solch ein Kampf ums täglich Brot ist für uns unvorstellbar. Es ist aufrüttelnd zu lesen, wie andere Menschen, besonders Kinder, in solchen Ländern überleben, was für Kämpfe sie täglich bestehen müssen, wie wenig ihr Leben eigentlich wert ist. Es ist schlichtweg auch viel Glück dabei gewesen, dass Saroo überlebt hat und die Brierleys solch verantwortungsbewusste und liebevolle Menschen sind. Nicht zuletzt half ihm auch seine Anpassungsfähigkeit, er kann sich auf fremde Menschen und neue Situationen sehr rasch einstellen. Sehr schön fand ich übrigens seine zusätzlichen Informationen, etwa die Beschreibung der Brierleys, ihre Motive für eine Adoption, ihre Lebensgeschichte, aber auch die Geschichte seines Adoptivruders Mantosh oder die Arbeit von ISSA. Der Leser erfährt sehr viel hilfreiches Hintergrundwissen und kann Handlungen und Verhalten besser nachvollziehen.

Fazit: Ein tolles und sehr anrührendes Buch, eine Geschichte, die zu Herzen geht. In einfachen Worten, mit dem Herzen eines Kindes geschrieben, ein Kind, das soviel erlebt hat, dass man meinen könnte, es zerbricht daran, das uns jedoch immer wieder mit seinem Mut und seinem unbedingten Überlebenswillen überrascht. Als Leser findet man sofort Zugang zu Saroo und seiner Geschichte und lebt alles intensiv mit ihm mit. Das Happy End ist natürlich in Wahrheit kein Ende, sondern ein wundervoller neuer Anfang. Saroo hat nun zwei Familien, die er beide liebt und die ihn lieben. Das Buch liest sich gut und flüssig herunter, und die sehr schönen, sehr privaten Fotos von seinen Stationen im Leben geben der Geschichte einen zusätzlichen, sehr emotionalen Charakter, so dass man das Gefühl hat, in einem Familienalbum zu blättern und an einer sehr privaten Familiengeschichte Teil zu haben.