Die Normalität der Gewalt

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petris Avatar

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Anna Burns hat mit diesem Roman 2018 den Man Booker Prize gewonnen, eine hohe literarische Auszeichnung, allerdings kein Garant für Lektüre nach meinem Geschmack. Der Klappentext sprach mich allerdings an und die Leseprobe gefiel mir sehr. Da spielte das Cover mit dem schönen Sonnenuntergang, der mir viel zu lieblich erschien für die Geschichte, die ich erwartete, auch keine Rolle mehr bei der Entscheidung. (Interessanterweise passt im Nachhinein betrachtet das Cover hervorragend, da ein Sonnenuntergang gleich in zwei Szenen eine wichtige Rolle spielt.)

So begann ich mit der Lektüre. Dass die im Klappentext angekündigte Geschichte, dass eine junge Frau (unsere Protagonistin und Ich-Erzählerin) von einem wesentlich älteren Mann und Paramilitär (dem Milchmann) gestalkt wird und dies ein Gerücht auslöst, das immer größer wird und sich immer mehr aufbauscht, nur den Rahmen bildet, ist schnell klar. Denn beim Erzählen ihrer Geschichte, die auch die Geschichte ihrer Stadt, ihres Landes, ihrer Zeit (70er in Nordirland) ist, schweift die Protagonistin immer weit ab, lässt uns an ihren Gedanken teilhaben, beschreibt die Lebensumstände, die Einstellung der Menschen, wie ihre Gesellschaft funktioniert. Das ist durch die langen Sätze und vielen Aufzählungen oft anstrengend zu lesen und durch den Inhalt oft schwer zu ertragen. Es geht um Bigotterie, um Gewalt, um Frauenfeindlichkeit, um Intoleranz, um fehlendes Vertrauen in Medizin, Staat, aber auch in Freunde und Familie, es geht um Auswüchse, die auf dem Nährboden eines kriegerischen Konfliktes und einer autoritären Gesellschaft, blühen und gedeihen.

In diesem Umfeld, in dieser Gesellschaft, gerät die Protagonistin, obwohl (manche sagen weil) sie sich so bemüht, nicht aufzufallen, zwischen die Fronten. Und als Leser verfolgen wir, wie sich die Schlinge zuzieht, wie sie verzweifelt versucht, alles auszusitzen.

Ein Happy End gibt es nicht, aber vielleicht so etwas wie einen leichten Beginn einer Veränderung. Doch hier liegt auch mein Hauptkritikpunkt an der Geschichte. Für meinen Geschmack war das Ende zu konstruiert, so als ob die Autorin am Ende zu schnell die vielen losen, verwirrten Fäden verknüpft hätte. Das ging mir dann zu schnell. An manchen Stellen fand ich auch die Abschweifungen, Sätze und Beschreibungen etwas zu viel des Guten, obwohl mir der Stil generell ja gut gefiel.

Sehr interessant fand ich, dass in dem ganzen Roman keine Namen vorkommen. Die Protagonistin nennt alle mit Ausdrücken, die sie charakterisieren und in der Familie wird einfach aufgezählt. Da gibt es Schwester 1-3, Schwager 1-3, Milchmann, Vielleicht-Freund, älteste Freundin, Tablettenmädchen,… Das erzeugt eine ganz eigene Stimmung, weil man bei manchen rätselt, woher der Name kommt und auch weil klar wird, dass der echte Name in dieser Gesellschaft verborgen bleibt. Ob aus Schutz, da ja alle eng mit den Paramilitärs verbunden sind oder aus Gewohnheit, man erfährt es nicht.

Ein spannender, hochliterarischer, sehr anspruchsvoller Roman. Kein schönes und unterhaltsames Buch, aber eine Lektüre für alle, die sich beim Lesen gerne auch etwas anstrengen und nicht nur reine Unterhaltung suchen. Mir hat es mit ein paar Abstrichen sehr gut gefallen.