Ein sehr spezielles Buch

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miro76 Avatar

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Ein namenloses Mädchen erzählt und von ihrem Leben in der namenlosen Stadt. Von der Trennung durch die Hauptstraße und den Menschen von der anderen Seite der Straße, der anderen Seite der See. Schnell wird klar, dass es sich um Nordirland handelt. Die Stadt ist wahrscheinlich Belfast, wo die Trennung zwischen Katholiken und Protestanten immer noch recht scharf gezogen wird. Und wir befinden uns in den späten Siebzigerjahren, wo der Konflikt voll in Gange ist, wo Bombenanschläge zur Tagesordnung gehören.

In dieser Zeit läuft das namenlose Mädchen lesend durch die Straßen, bis sie von einem älteren Staatsverweigerer angesprochen wird. Er hat gefallen an ihr gefunden und das lässt die Gerüchteküche hochkochen. Gelegentlich kommt es zu Begegnungen auf der Straße und scheinbar passiert hier auch nicht viel, doch die Autorin hat ein gutes Gespür dafür, zwischen den Zeilen die Bedrohung, die von diesem Mann ausgeht, aufleben zu lassen. Fast fürchte ich mich beim Lesen ebenfalls vor diesem Mann.

Generell lebt dieser Roman nicht unbedingt von der Handlung. Es ist eher die Art, wie Anna Burns ein Gefühl für die Gesellschaft in dieser Stadt vermittelt. Sie beschwört durch die Gedanken und Erinnerungen des Mädchens ein differenziertes Bild der sozialen Strukturen in dieser zerrissenen Stadt herauf und lässt uns tief in dieses Gefüge eintauchen.

Sie benennt die Dinge nicht beim Namen, sie kreist um die Kernthemen, schweift ab, um später wieder darauf zurückzukommen und mit jeder Wiederholung gibt sie dem Geschriebenen etwas mehr Gewicht. Sie arbeitet häufig mit Synonymen, Methapern, Alternativen, sinnverwandten und bedeutungsähnlichen Wiederholungen und setzt dadurch Betonungen. Anna Burns spielt mit der Sprache.

Anfangs hat mir das ausgesprochen gut gefallen, auch wenn ihre Schachtelsätze manchmal sehr schwer zu lesen sind. Dieses Buch verlangt Konzentration und hat sie auch verdient. Es ist ein ungewöhnliches Leseerlebnis und wenn man das Buch nach 450 Seiten zuschlägt, kann es sein, dass man sich körperlich erschöpft fühlt.

Und hier liegt auch meine Kritik. Der ungewöhnliche Stil, das ständige kreisen um die Kernthemen ist anfangs aufregend, wird aber mit der Zeit etwas anstrengend. Immer wieder habe ich mich dabei ertappt, dass ich mir gewünscht hätte, dass auch die Handlung voranschreitet. Ich denke, etwas gestrafft würde dieses Buch nicht so polarisieren.

Dennoch bin ich froh, dass ich „Milchmann“ gelesen habe und ich weiß, das Buch wird mir noch sehr lange im Gedächtnis bleiben. Die Autorin hat mich mitten in diese patriarchale Gesellschaft entführt und Angst und Schrecken erleben lassen. Das hallt noch lange nach.