Ein sprachliches Meisterwerk

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bücherhexle Avatar

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„Der Tag, an dem Irgendwer McIrgendwas mir eine Waffe auf die Brust setzte, mich ein Flittchen nannte und drohte, mich zu erschießen, war auch der Tag, an dem der Milchmann starb.“ (S.7)

Mit diesem bemerkenswerten Satz beginnt der 2018 mit dem renommierten Man Bookerpreis ausgezeichnete Roman von Anna Burns, und ich möchte bereits zu Anfang sagen, dass er bis zum Ende höchst außergewöhnlich bleibt und den Preis absolut verdient hat.

Doch nun zum Inhalt: Die namenlose, 18-jährige Ich-Erzählerin begegnet offensichtlich nicht zufällig einem deutlich älteren Mann, in dessen Fokus sie geraten zu sein scheint. Man nennt ihn nur „Milchmann“, er ist ein führender Kopf der sogenannten Staatsverweigerer. Zunächst will er sie nur zum Mitfahren überreden, beim nächsten Mal begleitet er sie ungefragt beim Joggen, gibt ihr zu verstehen, dass er alles über sie weiß. Die furchterregenden Begegnungen häufen sich. Es dauert nicht lange und die junge Frau gerät in das Getriebe der tratschenden Gemeinschaft, man lastet ihr ein tatsächliches Verhältnis mit dem verheirateten Mann an. Die Ich-Erzählerin hat sich angepasst, sie möchte nicht auffallen. Insofern missbilligt sie das Interesse dieses wichtigen Mannes zutiefst.

In einer Sache unterscheidet sie sich jedoch von allen anderen: Sie liest im Gehen, vorwiegend klassische Romane, um abzutauchen: „Bei meinem Im-Gehen-Lesen ging es genau darum: absichtlich nichts wissen wollen. Es war wachsam von mir, nicht wachsam zu sein,…“ (S. 87) Das sehen andere aber anders: Mehrfach wird sie gewarnt, von dieser Marotte abzulassen.

Frauen haben in dieser Gesellschaft ohnehin eine untergeordnete Stellung, es gibt ein festes Rollenbild, sie müssen die männliche Überlegenheit anerkennen, sich ihren Entscheidungen beugen. Frauen, die Widerworte geben, sind im Grunde missraten, zählen leicht zu den „Übergeschnappten“, werden geächtet. Die Erzählerin hat einen Vielleicht-Freund, der aus einem anderen Viertel stammt. Sie ist gern mit ihm zusammen, allerdings vermeiden es beide, die Beziehung verbindlich werden zu lassen. So ist er noch nie bei ihr zu Hause gewesen. Das hat die Erzählerin auch deshalb bewusst vermieden, weil ihre Mutter bereits seit zwei Jahren auf eine Ehe drängt und nur zu viele Fragen stellen würde.

In ihrer Darstellung der gegenwärtigen Ereignisse schweift die Erzählerin laufend ab. Sie berichtet von vergangenen Ereignissen, sie beschreibt das Leben in dieser Gesellschaft, in der es Bomben, Verrat, soziale Kontrolle, Ungleichheit, Feindbilder und Anpassungsdruck gibt. Es gibt „diese Seite der Hauptstraße“ und die „andere Seite der Hauptstraße“; dazu gibt es noch „die andere Seite der See“, was zunehmend die Vermutung nahelegt, dass die Geschichte in Zeiten des Nordirland-Konfliktes angesiedelt ist. Die Namenlosigkeit von Figuren und Orten wird allerdings stringent verfolgt. Das erscheint bedeutsam, denn die Bedingungen könnten zu anderen Zeiten, an anderen Orten sehr ähnlich sein und erinnern an totalitäre Systeme überall auf der Welt. Es ist auch diese Übertragbarkeit, die den Roman auszeichnet.

Der Milchmann ist mächtig. Im Normalfall bekommt er, was er will. Das weiß auch die Erzählerin. Da die Gesellschaft voreingenommen ist und sie bereits der verwerflichen Affäre für schuldig befunden hat, kann sie sich niemandem anvertrauen. Selbst die eigene Mutter glaubt ihr nicht. Das verurteilt die junge Frau zur Passivität. Zunehmend fühlt sie sich eingeschränkt, beobachtet, gelähmt. Sie vermeidet ihre gewohnten Routen, sie läuft seltener. Obwohl sie spürt, wie sich die Fangnetze um sie herum spannen, verweigert sie sich dem mysteriösen Mann, der wiederum mit Drohungen gegen ihr nächstes Umfeld reagiert. Die Frau landet in einer Zwickmühle: irgendwie scheint es kein Entrinnen aus der Situation zu geben.

Es gibt aber auch Hoffnung. Menschen, von denen etwas Helles ausgeht, die sich nicht von Angst und Leid unterdrücken lassen, transportieren sie. Die Erzählerin begegnet einigen von ihnen, bewundert sie auch, dennoch zieht sie für sich selbst ihre eigenen Schlüsse: „Strahlen war also schlecht, und „zu traurig“ war schlecht, und „zu fröhlich“ war schlecht, weshalb man am besten gar nichts war; am besten auch gar nichts dachte, zumindest nicht in der obersten Schicht, seine Gedanken im sicheren Unterholz verwahrte“. (S. 119)

Obwohl man schon von Beginn an weiß, dass der Milchmann ums Leben kommt, schafft es die Autorin, die Ausweglosigkeit ihrer Protagonistin unglaublich fühlbar darzustellen. Ihre Reflexionen werden gekonnt mit der Gegenwart verknüpft. Viele Ebenen berühren sich auf diese Weise, die persönliche Perspektive wird mit der äußeren verbunden. Man kann in diese Erzählweise regelrecht eintauchen, die Sätze sind Meisterwerke und ich bestaune die gelungene Übersetzung von Anna-Nina Kroll, die diese Sprachmelodie gekonnt ins Deutsche übertragen hat.

Der Roman nimmt mehr und mehr Fahrt auf, mutiert zum Pageturner. Es werden zahlreiche Fragen in einer Gesellschaft aufgeworfen, die Vokabeln wie Stalking, sexuelle Belästigung und Verleumdung gar nicht kennt und wo entsprechend auch keine juristische Verfolgung zu erwarten ist. Und dennoch wird der ein oder andere Übeltäter seiner gerechten Strafe zugeführt, was wiederum mit einem Augenzwinkern, mit einer lustigen Anekdote umschrieben wird. Manchmal dürfen auch die Frauen Helden sein, immer dann, wenn sie zusammenhalten. Zum Ende hin verliert der Roman auch etwas von seiner Schwere und Bedrängnis. Das erscheint mir wie ein Kunstgriff, wie eine Lösung, wo es keine Lösung gibt.

Anna Burns ist ein großartiger Roman gelungen, der den Leser in eine Zeit führt, in der sich Menschen an bürgerkriegsähnliche Verhältnisse gewöhnen und anpassen mussten. Angesichts der vielen Konfliktherde in der Welt ist dieser Roman unglaublich zeitlos und aktuell. Ein Meisterwerk, das man unbedingt lesen sollte.