Wenn jedes Wort das letzte sein kann...

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ismaela Avatar

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Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass „Milchmann“ die Lesegemeinde spaltet, denn ein einfaches Buch ist es nicht. Nicht so sehr auf Grund des speziellen Themas, sondern auch, wie dieses stilistisch umgesetzt wurde.
Eine namenlose Ich-Erzählerin beschreibt ihr Leben in einer namenlosen Stadt, umgeben von namenlosen Personen – erst zum Schluss tauchen einige Namen auf, die den Personen dann auch eine gewisse Persönlichkeit geben. Dieses Leben der Protagonistin ist geprägt von Gewalt, Einschüchterungen und der ständigen Gefahr, eine Frau zu sein. Obwohl alles in dieser Geschichte namenlos ist, kristallisiert sich schnell die Umgebung von Nordirland heraus, vor allem auch deshalb, weil die Autorin zu diesem Land einen Bezug hat. Der ominöse Milchmann stellt der Ich-Erzählerin nach, und vermittelt ihr zwar indirekt, dafür aber sehr deutlich, was er von ihr möchte: nämlich sie. Und als Frau hat man zu gehorchen, sonst gerät man in eine Schublade, in der man seines Lebens nicht mehr sicher ist.
Die Autorin benutzt mehr oder weniger überhaupt keine direkte Rede, der größte Teil des Textes findet im Kopf der Ich-Erzählerin als Gedankenstrom statt. Und genau hier scheiden sich die Buch-Möger und die Buch-Hasser: Es gibt in der Regel eine bestimmte Ausgangssituation – zum Beispiel als der Milchmann der Protagonistin beim Joggen auflauert – und nach diesem beschreibenden Satz fängt das Gedankenkarussell an, wobei die Ich-Erzählerin vom Hölzchen aufs Stöckchen kommt. Der Gedankenwust wird immer dichter und dichter, zieht sich über mehrere Seiten, und zumindest ich wusste danach nie mehr, was eigentlich der Ausganspunkt war. Diese Art zu schreiben (und zu lesen) hat mich teilweise sehr angestrengt, mitunter auch genervt, aber trotzdem sehe ich einen bestimmten Sinn darin, so zu (be-)schreiben. In einer Welt, in der jedes falsche Wort den Tod bedeuten kann, quellen die Gedanken über, wenn man dies zulässt. Das Bedürfnis alles sofort und gleichzeitig zu kommunizieren kann ich in so einer Situation sehr gut nachvollziehen. Auch schafft es die Autorin, bei aller Bitterkeit und Düsternis teilweise sehr humorvoll zu schreiben, keineswegs so, als gäbe es keinen Ausweg. An vielen Stellen sieht man doch die Hoffnung ein bisschen durchblitzen, vor allem zum Schluss hin, als sie vom Milchmann letztendlich befreit wird.
Insgesamt hat mich das Buch noch länger beschäftigt, und ich wünsche mir, dass die Protagonistin glücklich geworden ist. Der Schreibstil ist nicht jedermanns Sache, aber mir hat es sehr viel mitgegeben.