Mit dem Schlauchboot übers Mittelmeer - klingt bekannt, oder?

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
kleine hexe Avatar

Von

Sehr ergreifendes Buch, das den Leser direkt und von Anfang an in medias res bringt. Eine typisch deutsche Familie in den vierziger Jahren im 20. Jahrhundert, bestehend aus Mutter und drei Kindern, weil der Vater an der Front ist, zeigt sich von seiner schönsten und menschlichsten Seite. Die junge Frau und ihre drei Kinder überstehen die wilden und gnadenlosen Bombardements von Dresden, verlieren trotz allem aber nicht ihre Menschlichkeit. So gelingt es den beiden Jungen heimlich polnisch-jüdischen Zwangsarbeiterinnen etwas Brot zuzustellen, die Mutter bringt die Frauen in einen abgeschlossenen Raum unter, stellt sich gegen den Reserveoffizier Huber und weist ihn in seine Schranken. Nachdem sie total ausgebombt wurden, müssen sie hinaus aufs Land fliehen, wo der Krieg nicht solche Verwüstungen angerichtet hat und wo die Flüchtenden den Alteingesessenen ein Dorn im Auge sind. Das Ende des Krieges erleben sie in Clausnitz, wo sie beim ehemaligen Arbeitgeber des Vaters Unterschlupf finden. Da gibt es auch ein Zwangsarbeitslager, aber von amerikanischen Soldaten. Die werden besser behandelt, die Soldaten geben den Kindern von ihren Schokoladen- und Kaugummi Rationen ab. Nach Kriegsende werden die US-Soldaten freigelassen und ziehen sofort ab Richtung Westen. Grete und ihre Kinder bleiben zurück, obwohl die Soldaten sie anflehen, mitzukommen. Aber sie wollen die Heimat nicht verlassen, ohne zu ahnen, wie viel Elend und Not auf sie zukommen wird. Zuerst werden Grete und Inge tagelang von russischen Soldaten vergewaltigt, dann der Weg zurück nach Dresden, mit einem Abstecher zu Gretes Vater und und ihrer Schwester in Chemnitz, wo sie nicht willkommen sind. In Dresden Notunterkünfte, dann Notwohnungen, die unerwartete Heimkehr des Vaters aus dem Krieg, endlich hat es den Anschein, es will aufwärts gehen. Aber mittlerweile ist der Kalte Krieg in vollem Gange, die politischen Lager sind voll abgehärtet, die Grenzen dicht. Dieto will unbedingt Artist werden, angespornt durch die Erzählungen des Vaters, wie er die russische Gefangenschaft überlebt hat. Dieto verwirklicht seinen Traum, es folgen Auftritte innerhalb der DDR, aber auch in den anderen sozialistischen Bruderländern. Zusammen mit seiner Verlobten Johanna, die aus einer Artistenfamilie stammt, wollen sie in den Westen fliehen, sie fühlen sich in den einengenden ostdeutschen Verhältnissen nicht mehr wohl.
Die Beschreibung der Gefahren und Strapazen, der Mühen und haarsträubenden Abenteuer, die das junge Paar auf sich genommen hat, bis sie endlich in den Westen gelangen, sind sehr eindrucksvoll und dramatisch beschrieben. Wie viele versuchen es nicht heute noch, mit dem Schlauchboot übers Mittelmeer zu fliehen, weil sie das Leben in der Diktatur in ihren Herkunftsländern nicht mehr aushalten. Diese Parallele hat sich mir unwillkürlich aufgedrängt bei der Lektüre des Buches.
Der Erzählfluss ist abwechselnd, mal dramatisch, wie z.B. die Kriegszeit oder die Flucht in den Westen, mal fließt er ruhig dahin, beschaulich und gediegen. Belustigend fand ich die Begründung, weshalb ein Teil der Handlung von Hanau nach Salzburg verlegt wurde. Hera Lind hat einen sogenannten “Tatsachenroman”, nach wahren Begebenheiten verfasst, in Zusammenarbeit mit Dieto Kretschmann. Wenn wir diese Tatsachen als literarische “alternative Fakten” betrachten, kann ich gut damit leben. Literatur ist ja eine Vermischung von Wahrheit und Fiktion.
Manche Details erinnern dermaßen stark an die Ost-West Unterschiede, die normalerweise denen im Westen geborenen gar nicht auffallen würden: der Geschmack einer Cola, z.B., oder von Senf aus dem Westen. Oder der Qualitätsunterschied zwischen einem Koffer aus der DDR und einem Koffer aus der BRD Dieto wird auch der Unterschied zwischen einem dunkelgrünen Polyesteranzug hergestellt in einem VEB der DDR und einem echten Smoking schnell bewusst. Im Polyester darf er nicht in den noblen Speisesalon auf einem Kreuzschiff essen gehen. Das sind so Anekdoten, die das Leben schreibt.