Vom Suchen, Finden und Gefundenwerden

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inyanmni Avatar

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In Stephan Abarbanells Roman „Morgenland“ begleitet der Leser Lilya Wasserfall, eine junge Jüdin aus Palästina, auf der Suche nach einem verschollenen Wissenschaftler, die sie ins vom Zweiten Weltkrieg zerstörte Großbritannien und Deutschland des Jahres 1946 führt. Die Hauptfigur, die auf ihrer Reise mit ihren eigenen Wunden und ihrer eigenen Sinnsuche konfrontiert wird, fand ich sehr anschaulich geschildert, ich konnte mich gut in sie hineinversetzen.

Der Aufbau der Geschichte hat mir gut gefallen, die Schauplätze werden nicht hektisch gewechselt und die Ereignisse überschlagen sich nicht, vielmehr erschließt sich Lilya und den Lesern Schritt für Schritt, was mit dem verschwundenen Raphael Lind passiert ist. Auch die sich anbahnende Liebesbeziehung zwischen Lilya und David Guggenheim, einem US-amerikanischen Mitarbeiter der UNRRA, fand ich gelungen, dass der am Ende gefundene Wissenschaftler allerdings gleichzeitig Guggenheims leiblicher Vater ist, war mir etwas zu viel, das hätte die Geschichte meiner Meinung nach nicht gebraucht. Ich habe diese Entwicklung kommen sehen, sobald klar war, dass es im Roman ein zur Adoption freigegebenes Kind und einen jungen Mann auf der Suche nach seinen leiblichen Eltern gibt, und die Aussicht auf diese für mich übertriebene Schlussfolgerung hat mir das Vergnügen am Lesen etwas verleidet, auch wenn ich bis zum Ende mitgefiebert habe, ob Lilya Raphael finden wird.

„Morgenland“ ist ein Buch über die Suche nach Heimat und Erlösung, die ganz unterschiedliche Formen annehmen kann, aber auch ein Buch über Menschen, die Bücher lieben. Mir war nicht bewusst, welche Ausmaße das Archiv der geraubten Bücher in Offenbach hatte und wie viel Mühe man sich dort gegeben hat, nicht nur die Eigentümer oder Erben der Bücher ausfindig zu machen, sondern die Werke auch liebevoll zu restaurieren, bevor sie auf die Reise geschickt wurden. Elias Linds Bitte im Epilog, Lilya möge ihm die Titel der endlich bei ihm in Palästina eingetroffenen Bücher seines Vaters vorlesen, damit er die Schätze dann an ihren Platz im Regal tragen könne, was für sie beide ein Festtag sein solle, hat mich zu Tränen gerührt.

Die Geschichte wird abgerundet durch ein Nachwort sowie sehr hilfreiche Informationen zur Lage in den von Lilya besuchten Gebieten zur Zeit ihrer Reise. Ich habe durch den Roman auf sehr kurzweilige Weise viel über diese Zeit gelernt, die in Geschichtsbüchern gegenüber den Schrecken des Krieges und des Holocaust oft kaum beleuchtet wird. Dem Autor ist eine spannende Verknüpfung von packender Suche und eindrücklich geschilderter Zeitgeschichte gelungen.