Eher Reisebericht als Sachbuch

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singstar72 Avatar

Von

Bettine Vriesekoop

Oft, wenn ich nach dem Lesen eines Buches unentschlossen bin, versuche ich, meinen Eindruck in nur einem Wort zusammenzufassen, um dem Gefühl hinter der Lektüre auf die Spur zu kommen. Bei diesem Buch von Bettine Vriesekoop bin ich auf folgendes Wort gestoßen: achtbar. Es fasst für mich zusammen, warum ich nicht ganz begeistert, aber eben auch nicht enttäuscht bin.

Es ist ein achtbarer Erfolg für eine ehemalige Leistungssportlerin und heutige Journalistin, ein solches Buch zu verfassen. Sie deckt ein beeindruckendes Spektrum von Themen rund um die chinesische Frau von heute ab. Dennoch, als geübter Leser kann man ihre Begrenzungen durchaus entdecken. Vielleicht war die Kombination einfach nicht glücklich: gerade eine Niederländerin (ein Land, das für seine intellektuelle Offenheit bekannt ist), und noch dazu eine ehemalige Sportlerin… und als Reisebegleitung erwählt sie sich für dieses Buch ausgerechnet eine verhuscht wirkende Chinesin, ebenfalls eine Frau also, die in einer Vielzahl von Fällen bei persönlichen Fragen ausweichend antwortet.

Betrachten wir die Vorgeschichte des Buches und seine Rahmenbedingungen. Bettine Vriesekoop hat eine mehr als 30jährige „Geschichte“, die sie mit China verbindet. So weit, so gut. Aber sie selbst bestätigt in ihrem Vorwort, dass eine entscheidende Initialzündung zum Schreiben dieses Buches von einer Gastprofessur ausging – für die man keinerlei akademische Vorkenntnisse benötigte! Sie diskutierte mit einer Handvoll niederländischer Studenten über die Rolle der Frau in China – und konnte sich dabei zumeist nur auf Quellen aus zweiter Hand stützen. Das ist das ganze Buch hindurch spürbar. Immer wieder zitiert sie niederländische Autoren, die angebliche Standardwerke zu China verfasst haben. Auch bezieht sie sich auf Beispiele aus der Populärkultur, wie Filme und Schauspieler, sowie zeitgenössische Belletristik. Und vergessen wir nicht: fast alle Interviews, die sie für dieses Buch geführt hat, haben in Peking stattgefunden – oder in anderen Großstädten. Aber Peking ist nicht China! Genauso wenig wie London England oder Paris Frankreich ist.

Nun möchte ich meine scheinbare Kritik revidieren. Das Buch ist insgesamt sehr gut lesbar; es verbindet auf harmonische Weise Information mit leisen Zweifeln. Man merkt eher unterschwellig, wie die Autorin bisweilen an der chinesischen Undurchdringlichkeit verzweifelt. Wie ich schon erwähnte, ist ihre Assistentin auf dieser Reise, die Chinesin Hu Ye, zwar freundlich, aber auch schwer greifbar. Eigentlich gibt sie nie eine direkte Antwort. Auch an manchen Interviewpartnerinnen merkt man, dass die Chinesen einfach – noch – nicht gewohnt sind, sich selbst zu hinterfragen. Oft brechen Gespräche an entscheidenden Stellen ab, oder Bettine verfolgt bestimmte Zweige nicht weiter. Ich kann mir gut vorstellen, wie schwierig das Unterfangen von vornherein gewesen sein muss: als große, blonde Ausländerin unterwegs mit einer eher konservativen Einheimischen…

Was das Buch sehr gut wiedergibt, ist die Gespaltenheit der Frauen, und ihre durch die verzwickte Historie bedingte Unerfahrenheit in manchen Themen. Es ist schon erschreckend, wie sehr die Politik ganze Generationen beeinflussen kann – und wie sehr gerade das chinesische Familienleben in Traditionen erstarrt. Sei es das Schönheitsideal (ich sage nur „gebundene Füße“), die Rollen von Mann und Frau, der Heiratsmarkt, die Landflucht, Ausbildung, Aufklärung… letztlich lässt sich fast alles in China auf historisch bedingte Umstände zurückführen. Ein solches Riesenreich musste man mit harter Hand regieren, um überhaupt ansatzweise so etwas wie Kontrolle zu haben; das ist mir schon klar.

Letztlich ist das Buch aber für mich eher ein Reisebericht; kein umfassendes Werk. Ich hätte mir mehr Hartnäckigkeit in manchen Fragen gewünscht. Auch waren es recht wenige Fotos – und auch nur in Schwarz-Weiß. Ich zweifle ganz einfach an der Repräsentativität mancher der interviewten Frauen. Das Stadt-Land-Gefälle ist meiner Meinung nach nicht genügend berücksichtigt worden.
Es wird wohl wie so oft am Geschmack des Lesers liegen; dennoch finde ich, dass es über das heutige China (und die Rolle der Frauen darin) bessere Bücher gibt. „Shanghai Tango“ von Jin Xing und „Im Garten des Drachen“ von Colin Thubron fallen mir da ein. Empfehlen würde ich Bettine Vriesekoops Buch nur im Rahmen weiterführender Lektüre.