Lesenswerter Beginn einer Freundschaft zwischen L. und einer Autorin

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adel69 Avatar

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Delphine de Vigan erzählt von einer Schriftstellerin, die auf einmal eine Schreibblockade hat. Es ist nicht so, dass sie auf einmal keine Romane oder Geschichten mehr schreiben kann. Nein, sie kann keine Briefe mehr schreiben, keine Ansichtskarten, keine Einkaufszettel mehr. Beim Anblick eines Computers wird ihr übel, sie kann keinen Stift mehr halten.

Fast schon traumatisiert starrt sie auf ihren Computer. Sogar Menschen, die sie kennen, fällt es auf, dass die Autorin still ist. Sie verwendet Ausreden. Der Stress sei schuld, die Reisen, vielleicht auch sei sie zu müde zum Schreiben.
Sie versucht, die wahren Gründe zu analysieren. Sie versucht, in sich zu gehen. Der Grund, warum sie fast zwei Jahre nicht geschrieben hat – warum sie fast nie mehr geschrieben hätte – ist L. Die Schriftstellerin ist L. begegnet, und er hat in ihr „irgendetwas“ bewirkt.

Die Autorin erzählt von einem Samstagabend, an dem sie in einem Supermarkt ihre Freundin Natalie traf. Eine Zufallsbegegnung zwischen zwei Autorinnen, die sich über ihre Bücher etc. unterhielten. Von Natalie bekam sie die Einladung zu einer Party, auf der sie L. kennen lernte.

L. scheint eine Traumfrau zu sein, sie macht der Autorin Komplimente. Sie sieht klasse aus und verhält sich auch so. Ein Vorbild also für die Autorin. Nur ein Vorbild?

Die Autorin beobachtet L., ihre anmutigen Bewegungen und ihre Wirkung auf Männer. Eine Wirkung auf Männer ist auf jeden Fall gegeben!

Beim Genuss von Wodka kommen die beiden Frauen ins Gespräch, und die Autorin schüttet L. ihr Herz aus. Die Freundin Natalie ist schon gegangen, also kann die Autorin noch bleiben und plaudern, wie es ihr gefällt.

L. versteht sie total, sie ist einfühlsam, sie streichelt die Wange der Autorin. Gerade diese Art der Zuwendung scheint die Autorin schon lange gesucht und benötigt zu haben!

Sie ist offensichtlich allein, getrennt lebend von einem Partner, ihre Kinder wohnen nicht bei ihr.

Nach ein paar Tagen bekommt die Autorin einen anonymen Brief. Einen Brief, der sie trifft, zielt er doch auf eines ihrer Bücher ab. Der anonyme Schreiber glaubt zu wissen, was im neuesten Buch der Autorin behandelt wird, um welche Geschichte es geht. Der Ton des Briefes ist aggressiv.

Dieser Brief trifft die Autorin tief – und genau in diese deprimierte Stimmung platzt ein Anruf von L., der die Autorin tröstet. Sie verabredet sich mit L. in der „Express Bar“.

L. erzählt ihr in der Bar, sie sei Ghostwriterin – also eine Autorin, die für andere Leute schreibt. L. sei in ihrem Metier so gut und erfolgreich, dass sie auch Aufträge ablehnen könne.

L. weiß auch viel darüber, wie der Markt der Bücher funktioniert. Das Gespräch findet die Autorin so gut, dass sie L. einiges aus ihrem Privatleben erzählt.

Es ist der Beginn einer Freundschaft zwischen der Autorin und L.

Offensichtlich handelt es sich hier um ein autobiographisches Buch von Delphine de Vigan, in dem sie sich selbst, ihrer Leserschaft, ihren Verwandten und Freunden erklären will, warum sie eine lange Schreibpause hatte. Die Leseprobe liest sich wie eine Rechtfertigung vor sich selbst und allen Personen, denen sie sich erklären möchte. Dennoch habe ich diese Leseprobe sehr gerne gelesen - denn die Autorin hat eine Art zu schreiben, die einfach mitreißt. Und vielleicht gibt uns die Autorin hier eine Lehrstunde. Eine Lehrstunde darüber, wohin Freundschaft oder eine Person, die in ein Leben tritt, führen kann. Dorthin, dass man zum Beispiel als Autorin nicht mehr schreiben kann.