Grandioses Verwirrspiel um Realität und Fiktion

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krimielse Avatar

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Freundschaft, Stalking, Verwirrspiel um Identitäten, Manipulation, Depression und Persönlichkeitsspaltung - als Leser fragt man sich bis zum Schluss dieses grandiosen Romanes, was Realität und was Fiktion ist.

Klappentext
Zwei Frauen lernen sich auf einer Party kennen. Die zurückhaltende Delphine, die sich mit fremden Menschen meist sehr schwer tut, ist sofort fasziniert von der klugen und eleganten L., die als Ghostwriter arbeitet. Aus gelegentlichen Treffen werden regelmäßige, man erzählt einander das eigene Leben, spricht über Familie und Freunde, vor allem über Freundinnen. Und natürlich über Bücher und Filme, die man lebt und bewundert. Delphine ist glücklich über die Gemeinsamkeiten und fühlt sich verstanden wie schon lange nicht mehr. Ganz entgegen ihrer Gewohnheit gibt sie in einem Gespräch über das Schreiben die Idee für ihr nächstes Buch preis. L. reagiert enttäuscht: Wie nur könne Delphine ihre Zeit auf eine erfundene Geschichte verschwenden? Eine Autorin ihres Formats müsse sich der Wahrheit verschreiben. Delphine ist entsetzt. L.s leidenschaftlich vorgetragene Forderung löst eine tiefe Verunsicherung in ihr aus. bald kann sie weder Papier noch Stift in die Hand nehmen. L. scheint völlig unglücklich über das zu sein, was sie in der Freundin ausgelöst hat. Selbstlos übernimmt sie die Beantwortung von E-Mails, das Absagen von Lesungen und Interviews, das Vertrösten des Verlags, der auf einen neuen Roman wartet. Und all das in Delphines Namen. Keiner weiß davon, keiner kennt L., und so ist Delphine allein, als sie feststellt, dass L. ihr immer ähnlicher wird...

Wie ein Analytiker, dessen Patientin auf der Couch liegt, begleitet man die Protagonistin zu Beginn ihrer Geschichte, die als Rückblick auf Vergangenes mit dem Wissen um das Geschehen durch die Erzählerin aufgebaut ist. Dadurch befindet man sich als Leser in der Situation, dass man weiß, etwas wird passieren, aber nur die Erzählerin selbst weiß, was es ist.
Man fühlt die ständige Gefahr zwischen den Sätzen, muss aber Geduld mit der Erzählerin aufbringen. Das schafft unglaubliche Spannung zu Beginn des Buches, da die Geschichte selbst harmlos und freundschaftlich erscheint. Die Erzählerin lotet aus und analysiert, gemeinsam mit dem Leser, betrachtet ursprünglich wahrscheinlich harmlos und natürlich erscheinende Situationen mit geschärftem und verändertem Blick aus den bekannten (und mir noch unbekannten) Geschehnissen heraus.
Vergangene Vorkommnisse werden unter die Lupe genommen, obwohl auch danach nicht klar ist, was Realität und was Manipulation ist.

Der Stil ist weiblich, wenn auch zu Beginn des Buches analytisch. Es werden unglaublich viele Nebensätze aneinander gefügt, Geschehnisse zwar im wesentlichen chronologisch und mit wenigen Blicken nach rechts und links erzählt, aber an den Details merkt man als Leser durchaus, dass die Erzählerin eine französische Frau ist.
Im der zweiten Hälfte des Buches führt jedoch die Tatsache, dass man als Leser von Anfang an weiß, dass L. die Persönlichkeit Delphines kopiert, zu einer gewissen Schwatzhaftigkeit und zu ein paar Längen im Erzählfluss, die ich als kleinen Mangel des Romanes betrachte. Obwohl man interpretieren könnte, dass die Autorin zeigen wollte, dass die Erzählerin eine ganze Weile brauchte, ehe sie dem Verwirrspiel von L. auf die Schliche kam, hätte mir eine Straffung gut gefallen.

Am Ende des Romanes bleiben viele Hinweise, die bei genauem Hinsehen Ansätze zur Lösung und Interpretation des Geschehens bieten. Die Autorin reicht die Verwirrung der Erzählerin direkt an den Leser durch, und das beherrscht sie perfekt. Ich bin hochzufrieden, dass ich mit viel Spielraum für Theorien und Gedankenspiele zurück gelassen wurde, das passt sehr gut zum Buch. Alles bleibt in der Schwebe zwischen Realität und Imagination, ohne vorgelegte Lösung.
Ich habe das intelligent angelegte Buch trotz der kleinen angesprochenen Schwäche sehr genossen.

Delphine de Vignan, geboren 1966, gelang mit "No & ich" (2007) der Durchbruch als Schriftstellerin. Seit dem Roman "Das Lächeln meiner Mutter" (2010), der wochenlang die französischen Bestsellerlisten anführte, zählt sie zu den wichtigsten zeitgenössischen Autoren Frankreichs. Sie lebt mit ihren Kindern in Paris.