Raffiniert

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Delphine de Vigan treibt ein listiges Spiel mit dem Leser. Sie erzählt „Nach einer wahren Geschichte“ und erzählt darin von der Schriftstellerin Delphine, die nach dem überwältigenden und auch überraschenden Erfolg ihres vorherigen, autobiografischen Buchs, das vom Selbstmord der psychisch kranken Mutter erzählt, in eine tiefe Krise gerutscht ist. Eine Schreibblockade, ja geradezu Ekel vor dem Schreiben treibt sie um. Sie steht am Beginn einer Depression, wird immer wieder von Selbstzweifeln geplagt.
Schon zu Beginn stellt sich der Leser natürlich die Frage: Wieviel Delphine de Vigan steckt in dieser Delphine, stimmen doch auch etliche weitere biografische Daten von Autorin und Erzählerin überein: Alter, Aussehen, Familienverhältnisse, Wohnort und, wie gesagt, die literarische Biografie. Aber das Buch will ausdrücklich ein Roman sein.
Und da beginnt es auch schon, das Spiel um Autobiografie, Autofiktion und Fiktion, das Delphine de Vigan hier mit uns spielt. Etliche Male glaubt man, in einem dieser Genres fest verankert zu sein, da wirft die Autorin alle Gewissheiten über Bord. Sie verhandelt den zunehmenden Anspruch des Lesepublikums nach wahren Geschichten, die zunehmende Abwehr des Fiktionalen, die sie als Autorin meint zu verspüren. Dabei steht sie auf dem Standpunkt, dass bereits das Aufschreiben von „Wahrheit“ diese fiktionalisiert und verfälscht. Diese fast literaturwissenschaftlichen Erörterungen sind zwar interessant, nehmen aber im Roman teilweise etwas ermüdend viel Raum ein.
Dahinter verschwindet fast die „eigentliche“, „wahre“ Geschichte. Die erzählt von der Freundschaft zu L. (elle=sie im Französischen), die in gerade dieser psychisch sehr labilen Zeit geschlossen wird und zunehmend Raum in Delphines Leben beansprucht. Hat sich die Erzählerin zunächst als sehr auf Unabhängigkeit bedachten Menschen dargestellt, die auch mit ihrem langjährigen Lebenspartner François in getrennten Wohnungen lebt, ihre zwei Kinder aus einer früheren Ehe allein großzieht, lässt sie ihr Leben nach und nach von L. kapern. Schließlich führt diese ihre Korrespondenz, springt für sie bei Lesungen ein, nähert sich ihr auch optisch immer näher. Eine Nähe, die immer bedrohlicher wird. Dabei bekommen wir die Vorgänge stets nur von Delphine selbst geschildert. Im Leser keimt der Verdacht, dass hier etwas nicht stimmt, dass die Erzählerin nicht zuverlässig ist. Zumal niemand aus ihrer Umgebung diese L. je zu Gesicht bekommt.
Existiert L. überhaupt? Ist sie eine der Depression geschuldete Einbildung Delphines? Oder dient sie sogar nur der Autorin zu ihren klugen Auseinandersetzungen zum Thema Schreibhemmung, dem Konflikt zwischen Wahrheit und Fiktion in der Literatur oder dem Umgang mit den Erwartungen der Lesern, besonders nach einem absolut überwältigenden Bucherfolg zuvor? Auch die Konflikte, die mit nahestehenden Personen, etwa der Familie nach der Veröffentlichung eines derart offenen autobiografischen Werks, wie es Delphine de Vigans „Das Lächeln meiner Mutter“ war, wird thematisiert. Treffen doch immer wieder unflätig formulierte (Droh)briefe ein, deren Absender bis zum Ende nicht identifiziert werden können. Aber existieren sie überhaupt?
Besonders gegen Ende entwickelt die Autorin einen starken Sog und eine hohe, fast an Thriller erinnernde Spannung, die gelegentliche Längen in der Mitte des Buches fast vergessen machen. Man folgt dem klugen Spiel bereitwillig und nimmt gern die literarischen Verweise auf, die zuhauf im Buch stecken. Gegen Ende werden einige davon enttarnt, aber auch gleich zu Beginn könnte man ahnen, in welche Richtung es geht, wählt Delphine de Vigan doch bereits als erstes Motto einen Auszug aus dem von dem von ihr sehr geschätzten Stephen King verfassten Roman „Sie“ (=elle=L.). Auch in diesem Buch geht es um einen von einem Fan gekidnappten Autoren, und auch diese Begegnung geht nicht gut aus.
Wieviel also an dieser „wahren Geschichte“ nun tatsächlich wahr ist, bleibt auch am Ende unklar. Was aber völlig unbedeutend ist, da man über weite Strecken fasziniert einem intelligenten Spiel um Wahrheit und Fiktion und das Schreiben gefolgt ist. Ein wenig wirkt es wie ein hinterlistiger Seitenhieb auf die Erwartungshaltung jener Leser, die, geprägt durch die inflationären Reality-Formate, jedes Buch auf seinen Wahrheitsgehalt zerpflücken, wobei der literarische Wert völlig in den Hintergrund rückt. Hier wird Wahrheit in einem schwindelerregenden Wirbel fiktionalisiert.
Es ist aber ein Schwindel, der nicht nur Spaß macht, sondern auch nachdenklich.