Mehr Reportage als Literatur

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lisakira Avatar

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Auf den ersten Seiten des autobiographischen Buches sind eine ganze Reihe Belobigungen abgedruckt à la "brilliant", "außerordentlich", "zukünftiger Klassiker" etc. Die dadurch geweckten hohen Erwartungen konnte das Buch leider nicht erfüllen - und ehrlich gesagt frage ich mich, ob alle Rezensenten das Werk WIRKLICH Seite für Seite bis zum Ende durchgelesen haben. Ich habe, was absolut untypisch für mich ist, das letzte Drittel nur noch, nun ja, nicht überflogen, aber doch versucht zügig hinter mich zu bringen.

Zu Beginn wird ein Wenig der Kindheit und Jugend der Autorin auf Orkney beschrieben und ja, das ist schön. Man kann sich die Inseln sehr gut bildlich vorstellen und wird so an einen wild-romantischen, einzigartigen Ort versetzt, der der Fülle des heutigen Großstadtlebens eine angenehme Leere gegenübersetzt.

Dann kommt der "zutiefst menschliche" und "mutige" Teil, um weiteres Klappentextlob zu zitieren. Es werden die Jahre in London geschildert, in denen die Autorin immer weiter in die Alkoholsucht abrutscht. Dies ist zwar recht faszinierend zu lesen, aber erstaunlicherweise nicht übermäßig berührend. Wohl hauptsächlich weil die Autorin keine nennenswerten Beziehungen hat oder schildert. Die Trennung von ihrem (Ex-)Freund ist zwar ein Quell konstanter Trauer, doch man erfährt von ihm nur in zwei, drei Anekdoten, ohne auch nur seinen Namen zu kennen, ganz zu schweigen von seinen Motivationen, Gefühlen, seiner Geschichte...

Es gibt dann einen Spannungshöhepunkt in der Mitte des Buches. Und dann... dann ist man wieder in Orkney, liest weitere Beschreibungen der diversen Inselchen, Küstenstreifen, Himmel, Häuser, viele historische Anekdoten, viele Informationen über Lebensgewohnheiten der tierischen Inselbewohner, da die Autorin an Vogelschutzprojekten mitwirkt, und viele, viele auf die immer gleiche Weise gezogene Parallelen oder Widersprüche zwischen dem alten und neuen Leben à la "früher in London tanzte ich nachts um 3 auf der Straße, heute sitze ich um 9 Uhr abends in eine Decke gewickelt in der Küche und verfolge online die Routen von Containerschiffen" oder "genau wie früher nach Alkohol bin ich heute süchtig nach Social Media Updates meiner tausende Kilometer entfernt lebenden Freunde"... Der Vergleich mithilfe des Wörtchens "wie" wird als stilistisches Mittel bis zum Äußersten ausgeschlachtet.

Ich bin sicher, die Autorin schreibt hervorragende Reportagen. Und natürlich wünscht man ihr nur das Beste und sie kann stolz darauf sein, sich aus einem sehr elenden Zustand wieder herausgearbeitet zu haben. Aber bei aller Solidarität und allem Mitgefühl (aus dem ich mich auch nicht überwinden konnte, die eigentlich passenderen 2 Sterne anzuklicken...), war es mir doch unmöglich, wirklich Anteil an der Geschichte zu nehmen, daraus etwas zu lernen oder abgesehen davon, dass ich mir nun besser vorstellen kann, wie es auf Orkney aussieht, irgendeinen positiven Nutzen aus dieser Lektüre zu ziehen. "Die Kräfte tosen in mir" - ich musste fast auflachen, als sich der letzte Satz als noch schlimmere Platitüde erwies, als ich befürchtet hatte. In mir toste nichts.