Von der schweren Last der Erinnerungen und des schlechten Gewissens

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juma Avatar

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Erst vor ein paar Monaten habe ich Astrid Seebergers Roman „Goodbye, Bukarest“ gelesen, der mich sehr gefangen nahm, nachdem ich zuerst Schwierigkeiten hatte, mich mit dem Stil der Autorin anzufreunden.
Diese Anfangsschwierigkeiten hatte ich bei diesem Buch nun gar nicht mehr. Ich freute mich riesig darauf es zu lesen und habe es binnen weniger Tage „verschlungen“. Oder hat es mich verschlungen?
Es gibt im Jüdischen den Spruch „Nächstes Jahr in Jerusalem“, den man am heiligen Sederabend als allumfassender Wunsch für das Versprechen eines Wiedersehens mit auf den Weg gibt. Den Titel „Nächstes Jahr in Berlin“ sehe ich als eine Abwandlung an, diesen Spruch schreiben sich die Mutter der Autorin und ihr Lieblingsbruder Ewald unter jeden ihrer Briefe, er hält über die Kriegsjahre die Hoffnung wach, doch er wird sich im Leben nicht erfüllen. Aber der Wunsch, sich wiederzusehen, der wird über zehn Jahre nach dem Krieg in Erfüllung gehen.
Die Autorin erzählt eine große und bewegenden Familiengeschichte, zuerst stehen noch die Mutter und später das Mutter-Tochter-Verhältnis im Mittelpunkt, aber je tiefer sie eintaucht in diese verzwickte Story, um so mehr liegt der Fokus auch auf den Großeltern, den Geschwistern der Mutter und deren verwickelten Lebenslinien. Das verlorene Ostpreußen bleibt in den Erinnerungen der Mutter lebendig, wie das große Haus und die Kindheitserlebnisse.
Die Mutter verstirbt einsam und innerlich leer und ohne Halt, die Tochter begräbt ihre Asche und erinnert sich an ihre eigene Kindheit und Jugend. Ihre Mutter war vor Kriegsende allein und ohne jeglichen Kontakt zu ihrer Familie im Süden Deutschlands gelandet, lernte im kleinen Waldstadt nach dem tragischen Ende einer Beziehung zu einem amerikanischen Soldaten ihren zukünftigen Ehemann kennen und lebt dort viele Jahre. In vielen verschiedenen und gut zusammengefügten Rückblenden wird der Lebensweg einer jungen Flüchtlingsfrau aus Ostpreußen nachgezeichnet, immer wieder taucht es auf, das „Flüchtlingsgesicht“ der Mutter. Mitte der 1950er Jahre findet sie plötzlich ihre Familie wieder, die es nach Augustenruh in der Nähe von Güstrow in der De-De-Er verschlagen hat. Diese kindliche Schreibweise fand ich so anrührend, die Autorin, die dort ihren Großvater kennen- und lieben lernt, ist ein sechsjähriges Kind und kann mit den Abkürzungen nichts anfangen. So schreibt sie, was sie damals hörte. Im Großvater findet sie einen Vertrauten, einen Gleichgesinnten, als sie älter wird, schreiben sich beiden lange Briefe. Dieses Schreiben bleibt der Autorin erhalten, durch den Großvater hat sie erfahren, welche Freude die schönen Texte hervorzaubern können, egal ob es die eigenen sind oder die von Goethe, egal ob man sie liest oder einem Vorleser zuhört.
Die Autorin erinnert sich an viele Stunden in der ländlichen Weite der Felder und Wiesen, es gibt wunderschöne Naturbeschreibungen ebenso wie die Erzählung von Ausflügen ans Meer, vom gemeinsamen Baden mit dem Großvater. Aber die Idylle der Ferienaufenthalte in Augustenruh endet abrupt am 13. August 1961. Nach dem Mauerbau fährt sie nie wieder zu den Großeltern.
In den Ferien in Augustenruh hatte die Mutter plötzlich einen neuen, freien und frohen Charakter, sie lachte, sie tanzte mit ihrem Lieblingsbruder Ewald, sie rauchte und sie trank Champagner. Nach den Ferien, zurück in Waldstadt, war sie wieder die kleine, graue Frau mit dem Flüchtlingsgesicht. Sie hatte wieder ihren Ehemann um sich und kümmerte sich um den Haushalt und die Tochter. Freude zeigte sie selten und in die Tochter kroch immer mehr und immer öfter ein schlechtes Gewissen, sie würde dort nicht bleiben wollen, sie wollte das Leben leben und die Welt erobern. Selbst der Umzug in die größere Stadt Stuttgart änderte daran nichts. Sie wollte, je älter sie wurde, nur noch weg, und wanderte tatsächlich mit 17 Jahren nach Schweden aus.
Und dann gab es da noch den Vater, der als gelernter Kartonmacher viel arbeitete und tüftelte, immer neue Erfindungen machte und im Laufe der Jahre von einer furchtbaren Krankheit gezeichnet wurde. Er bekam einen riesigen Buckel und seine Tochter sah es mit Entsetzen, wie er sich veränderte, immer kleiner, kränker und älter wurde. Er starb lange vor seiner Frau. Für die Mutter blieb danach nur Einsamkeit und Leere. Die Tochter sah es, begriff es und konnte trotzdem nicht helfen. Sie lebte in Schweden und sie lebte ihr eigenes Leben, Gewissensbisse aber, die Mutter verlassen zu haben, werden ihr über den Tod hinaus geblieben sein.
Nach dem Tod der Mutter erfährt die Tochter von Alois, dem Pastor, was die Mutter ihm in der Zeit vor ihrem Tod über ihre Familie, insbesondere über den Vater und den Bruder Bruno erzählt hat. Es dreht die Familiengeschichte, die Tochter bleibt fassungslos mit ihren Gedanken allein. Aber die Enthüllungen sind wie ein reinigendes Gewitter, die Tochter fasst den Entschluss, nach Bruno zu suchen, sie will nach Bukarest, dort gibt es einen Anhaltspunkt, den ihre Mutter noch zu Lebzeiten gefunden hatte, ihr aber nichts von alledem verriet.
Hier beginnt das Buch „Goodbye, Bukarest“ und nun erst, nachdem ich „Nächstes Jahr in Berlin“ gelesen habe, erschließt es sich mir völlig.
Diesem Zitat „Mit Empathie und Respekt nähert sich Astrid Seeberger anhand ihrer Familiengeschichte den Themen Krieg, Vertreibung und Flucht und schenkt ihrer Mutter schreibend die Liebe, die sie ihr zu Lebzeiten verwehrte.“ aus der Pressemappe von Politycki & Partner habe ich nur noch eines hinzuzufügen: Aus vollem Herzen 5 Sterne!