Wenn Worte Leben retten sollen...

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an_der_see Avatar

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Wenn Ihr Rezensionen, eure Gedanken über gelesene Bücher aufschreibt und im Internet veröffentlicht, denkt ihr dann vorher darüber nach, welche Wirkung eure Zeilen auf den Autor, die Autorin dieser Bücher haben könnte? Wenn ihr Punktezahlen für Bücher vergebt, ist euch dann bewusst, dass ihr nicht nur dem Buch diese Zahl gebt, sondern dass hinter diesem Buch ein Mensch steht, der diese Zahl auf sich beziehen könnte? Es ist schon so etwas wie eine Macht, die man ausübt, wenn man Bücher bewertet. Es ist nicht verwunderlich, dass es Autoren und Autorinnen gibt, die sich durch Texte über ihre Bücher angegriffen fühlen. Im Grunde stellt man sich in der heutigen Zeit mit einem veröffentlichten Buch der Meute zum Fraß, macht sich zum Freiwild. Als schreibender Mensch macht man sich angreifbar, selbst dann wenn man nicht veröffentlicht, wenn man es lediglich Menschen in seinem näheren Umfeld erzählt. Noch immer gibt es viel zu viele Menschen, die Menschen mit Schreibambitionen belächeln, von denen man Sätze zu hören bekommt wie: „Das haben doch schon ganz andere versucht und sind gescheitert.“ oder „Such dir lieber einen richtigen Beruf.“ oder „Du denkst wohl du bist etwas Besseres nur weil du schreibst.“ Freigeist und Kreativität sind unserer Gesellschaft noch immer nicht anerkannt, man hat ordentlich und vernünftig arbeiten zu gehen, wählt am besten den Beruf den die Eltern einem vorschreiben, nur nicht ein klein wenig zur Seite schauen und sich anders orientieren. Kastendenken. Menschen die davon betroffen sind, leiden, sind unglücklich, verzweifelt, nicht selten suizidgefährdet.
In „Nicht ein Wort zu viel“ von Andreas Winkelmann, geht es unter anderem um solche Menschen. Bei denen es nur ein kleines Ereignis für die Initialzündung braucht. Auf der einen Seite stehen die Leser und Leserinnen, die in den Sozialen Medien ihre Meinung über Bücher veröffentlichen, deren Lebensinhalt und Lebenssinn die Bücher sind, oft zurück gezogen leben, mit ihren ganz eigenen Lebensherausforderungen. Auf der anderen Seite die Schreibenden, die schon veröffentlicht haben und sich von den Kritiken angegangen fühlen oder die bisher vergeblich versucht haben ein Buch zu veröffentlichen. Neid und Missgunst sind nicht weit. Dazu die ermittelnden Kommissare, die ebenfalls Lebenshürden überwinden wollen und müssen, die falsche Entscheidungen treffen, die Menschen sind und wie solche fühlen und handeln. In „Nicht ein Wort zu viel“ gilt es eine Mordserie zu beenden und aufzuklären mit Hilfe der Wörter. Es verschwinden Menschen, deren Überleben davon abhängt ob eine spannende Geschichte mit 5 Wörtern erzählt werden kann. Man stelle sich vor, welchen Druck es auf diejenigen ausübt, die diese Geschichte erzählen sollen und wie es sich auswirkt, wenn trotz einer Geschichte ein Mensch stirbt.
„Nicht ein Wort zu viel“ ist ein Thriller und gleichzeitig eine Darstellung über mögliche Auswirkungen von Einsamkeit, Verschmähung, verlorener Liebe, Freundschaft, falscher Entscheidungen. Es wird von Menschen erzählt, deren einziger Freundeskreis online zu finden ist, die sich nur online so akzeptiert fühlen wie sie sind, von zerbrochenen Eltern-Kind-Beziehungen, von Alkoholmissbrauch und wie er Familien zerstört.
Ich gebe zu, ich lese so gut wie keine zeitgenössischen Krimis und Thriller mehr, lediglich die Bücher von Andreas Winkelmann und Robert Galbraith. Und diese beiden Autoren lese ich, weil es mir so vorkommt, als stünde die Thriller- bzw. Kriminalhandlung nicht im Vordergrund, als ginge es vielmehr um Menschen und ihre Motive dieses oder jenes zu tun oder nicht zu tun, als bilde der Begriff Thriller nur den Rahmen und das Bild im Rahmen ist bunt und wimmelnd, überlappend, verworren und je länger man es anschaut, desto deutlicher wird, was dargestellt wurde. Als ich am Ende von „Nicht ein Wort zu viel“ ankam und sich mir das Gesamtbild erschloss, war ich von dem Erzähltempo und der Spannung außer Atem. Von mir aus bräuchte es keine Darstellung von irgendwelchen bestialischen Morden, ich brauche in Büchern kein Blut und auch keine Beschreibungen von Tatorten. Zum Glück halten sich diese Beschreibungen in diesem Thriller in Grenzen, wenn sie auch nicht ganz außer Acht gelassen wurden. Mir ist die Innendarstellung von Menschen wichtiger, als das was draußen zu sehen ist. Was ist im Leben eines Menschen geschehen, dass ihn zum Mörder hat werden lassen? Warum tickt ein Mensch in dieser oder jener Situation aus? Welche Prägung seines Umfeldes hat einen Menschen so werden lassen, wie er von anderen wahrgenommen wird? Das sind Fragen die mich interessieren und auf die ich in „Nicht ein Wort zu viel“ Antworten bekomme.