Dem nächsten Abenteuer entgegen

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jenvo82 Avatar

Von

„Ich kaufte das Flugticket, aber bevor ich endgültig in mein Exil am anderen Ende der Welt aufbrach, wollte ich herausfinden, ob ich das, was ich verloren hatte, nicht vielleicht doch noch wiederfinden könnte.“

Inhalt

Norco, ein kleiner heruntergekommener Ort in Kanada ist die Heimat der Familie Cardinal. Der Vater arbeitet unter Tage und ist immer auf der Suche nach einem phänomenalen Erzvorkommen. Die Mutter verbringt den ganzen Tag in der Küche, um für die Heerschaaren an Kindern zu sorgen, die sie umgeben. Insgesamt sind es 21, die älteste Tochter übernimmt einen Großteil der mütterlichen Aufgaben und die Geschwister sind eine regelrechte Bande, in der es ebenso zu Rivalitäten wie engen Freundschaften kommt. Obwohl sie in ärmlichen, bescheidenen Verhältnissen leben, brechen die Kinder jeden Tag zu neuen Abenteuern auf. Die älteren Jungs eifern dem Vater nach und experimentieren mit Dynamit, um dem Berg die Erzvorkommen zu entreißen, die Kleinen tollen rum und streiten sich, jeder hat Träume, Pläne und immer die Gewissheit eine Familie im Rücken zu haben, die sich notfalls wie eine geschlossene Wand hinter den Einzelnen stellt.

Nur Angéle, eine der beiden Zwillingsschwestern der Cardinals, passt nicht so recht zum Rest ihrer Verwandtschaft. Sie möchte in Prinzessinnenkleidern tanzen, Bücher lesen und schöngeistige Erfahrungen sammeln. Deshalb unternimmt sie als einzige längere Aufenthalte bei einer Gastfamilie, die ursprünglich die Zwillinge adoptieren wollte, allerdings nur das Herz eines der beiden Mädchen erobern konnte. Doch Angéle kehrt nach jedem Ausflug in den Schoß der Familie zurück, die sie dennoch über alles liebt, selbst wenn ihr das Lebensgefühl der anderen unverständlich bleibt. Immer wenn sie wieder vor der Tür steht, blicken ihre Geschwister grimmig auf sie herab, schikanieren und demütigen sie und zwingen sie, wieder eine „richtige Cardinal“ zu werden. Bis eines Tages ein Unglück geschieht, welches mit einem Mal die Familie auseinandersprengt, welches eine unüberwindbare Lücke zwischen allen reißt und Erwachsene hervorbringt, die Jahre später noch an den Ereignissen der Vergangenheit leiden …

Meinung

Dies ist nun mein drittes gelesenes Buch der kanadischen Autorin Jocelyne Saucier, die mich mit ihrem Debüt „Ein Leben mehr“ überzeugen konnte und mit dem erst kürzlich gelesenen „Was dir bleibt“ wieder etwas in meiner Gunst nach unten rutschte. Aber dieser Roman hier trifft wieder voll und ganz in mein Leserherz und erzählt eine dramatisch-schöne Geschichte, die trotz der Bedrückung und Melancholie einzelner Erzähler die Hoffnung schürt, dass Familie und Zusammenhalt ein so starker Kitt sein können, das ein Fehlen ebenjener Erfahrung die viel schlimmere Strafe wäre.

Besonders fasziniert hat mich an diesem Roman die Perspektivenvielfalt, die durch verschiedene Protagonisten entsteht, allesamt sind Mitglieder der Familie Cardinal und jeder schildert seine eigenen Emotionen in der Vergangenheit und der Gegenwart. Dadurch bekommt dieses Gebilde einer Großfamilie regelrecht Leben eingehaucht, man kann als Leser nachvollziehen, worin die Stärken und Schwächen der Menschen bestehen, was sie mitnehmen können aus einem Verband, der schon fast einer Organisation gleicht und ohnehin in viele kleine Bestandteile zersplittert. Nicht Vater und Mutter sind hier die zentralen Figuren, sondern die Geschwister und ihre Konstellationen untereinander, abhängig von ihrem Wesen, ihrer Rolle innerhalb der Familienstruktur und der Entwicklung über die Jahre hinweg.

Die Autorin wählt pro Abschnitt immer einen anderen Cardinal, um dessen Eindrücke lebendig werden zu lassen und alle Kinder treffen sich nun im Erwachsenenalter zu einem Kongress der Bergleute, bei dem der Vater eine besondere Auszeichnung erhalten wird. Doch was ist aus ihnen geworden? Wer erlebte seine Kindheit als Segen, wer flüchtet noch heute vor Familienzusammenkünften und warum? All jenen Fragen geht dieser Roman auf den Grund, er zeigt einerseits das unerschütterliche Potential einer solchen Familie und lässt dennoch genügend Realitätssinn walten, um ganz klar herauszuarbeiten, das nicht alle Menschen so leben möchten, selbst oder gerade wenn ihre Kindheit immer nur abhängig vom Wohlwollen der Gesamtheit war. Ganz nebenbei werden auch die Sorgen und Nöte der Eltern greifbar, die zwar kaum Zeit für den Einzelnen hatten, ständig unter Geldsorgen litten aber immer gemeinsam an einem Strang gezogen haben und dadurch eine so dominante, lebensbestimmende Familie geschaffen haben.

Und dann offenbart sich noch das große Drama, an dem sich einzelne Familienmitglieder nach wie vor die Schuld geben, selbst wenn das Ereignisse eine Folge verschiedener Interaktionen war und es niemanden gibt, der die Vergangenheit hätte ändern können. Auch da wird mit viel Fingerspitzengefühl in einer alten Wunde gerührt, die nun aus aktuellem Anlass wieder besonders schmerzt.

Fazit

Ich vergebe erneut glatte 5 Lesesterne und habe ein weiteres Lieblingsbuch gefunden, bei dem für mich alles stimmt – die Gefühlswelt, der Facettenreichtum, die Unabänderlichkeit des Schicksals, Fluch und Segen eines Familienverbandes und die Ehrlichkeit sich ungeschönt mit fehlerhaften Entscheidungen auseinanderzusetzen und daraus seine Lehren zu ziehen. Vielleicht entsteht dieser Pathos durch meine persönliche Prägung, bei der ich einen großen Familienverband sehr zu schätzen weiß und mit Faszination beobachte, was Familienbande mit einem Individuum so alles anstellen kann. Die Kleinen und die Großen, die Verfechter und die Verachter des Ganzen, die trotz gleicher Lebensumstände und derselben Erziehungsmethoden zu vollkommen unterschiedlichen Menschen heranwachsen – höchst interessant und hier noch berührend umgesetzt, bekommt diese Geschichte einen Ehrenplatz im Regal und wird sicherlich noch einmal gelesen.