Der Umgang mit Schuld

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kleine hexe Avatar

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Dies ist ein beeindruckender Roman von Jocelyne Saucier, mit Tiefgang und Nachhall. Eine Familie, Vater, Mutter, 21 Kinder fristet ein an Armut grenzendes Leben irgendwo in einer verlassenen Minenstadt in Kanada. Als ein Teil der 21 Kinder schon erwachsen oder fast erwachsen sind passiert ein Minenunglück, es kommt zu einer verhängnisvollen Explosion. Das Tragische dabei ist, dass alle Mitglieder dieser riesigen Familie dabei Schuld auf sich geladen haben, bis auf die zu dem Zeitpunkt noch nicht geborenen Kinder oder noch zu klein waren, um zu verstehen, was geschah. Aber die anderen, Kinder und Eltern gleichermaßen, haben dabei schwere Schuld auf sich geladen. Zuallererst die Eltern, denn man setzt nicht 21 Kinder in die Welt um dann den Erziehungsauftrag und die Fragen nach dem Wohlergehen dieser Kinder an die älteren Geschwister abzugeben. Der Vater erfüllt seine Vaterpflicht in dem er seine Frau schwängert und dann, am Geburtstag der Kinder mit dem jeweiligen Geburtstagskind eine kontrollierte Explosion durchzuführen, sozusagen als Geschenk. Die Mutter bekocht die Familie und sonst nichts. Während der Nacht aber wandert sie durch das Haus, bleibt bei der Schlafstelle eines jeden Kindes stehen, betrachtet es und manchmal setzt sie sich ans Bett. Die Kinder spüren die nächtliche Besuche und freuen sich, für sie ist es ein Zeichen der Mutterliebe. Dabei bekommt die Mutter sehr wohl mit, welche Zwistigkeiten und Probleme zwischen ihren Kindern herrschen. Sie kriegt mit, dass Geronimo eigentlich viel zu jung ist, um das Familienoberhaupt dieser Kinderschar zu sein, doch die Mutter lässt es geschehen. Sie lässt es auch geschehen, als Geronimo das einzige Kind, das versucht ein anderes Leben zu führen, triezt, quält, schikaniert. Sie bietet Geronimo kein einziges Mal einhalt, dabei wäre es so leicht für sie, während eines nächtlichen Besuchs ihm zu sagen, es gut sein zu lassen, Angèle in Ruhe zu lassen. Aber nein, das würde bedeuten, sie mischt sich ein, nimmt ihren Erziehungsauftrag wahr und das will sie nicht. In meinen Augen hat sie als Mutter auf voller Linie versagt. Und dann Geronimo, er ertrinkt fast an seiner Schuld, dabei liebt er Angèle am meisten von all seinen Geschwistern. Ein einziges Mal versucht er es wieder gut zu machen, aber er geht es falsch an, findet nicht die richtigen Worte, weil er zu jung und unerfahren ist, Angèle kann nicht verstehen, dass der Minenbesuch eigentlich ein Friedensangebot ist. Das Mädchen hat seit ihrem fünften Lebensjahr kein gutes Wort von diesem Bruder erfahren, nur Häme, Zynismus, Spott. Wie soll sie ihm jetzt glauben? Die anderen Kinder sind auch schuldig, sie haben ihr nie beigestanden, sich nie, mit keinem Wort dem großen Bruder widersetzt sondern im Familienmobbing fleißig mitgemacht, nicht einmal Angèles Zwillingsschwester hält offen zu ihr. Jeanne d’Arc, die älteste Schwester, die von der Mutter immer die Neugeborenen zugeschoben bekommt um die sie sich dann kümmert, lädt eine ganz besondere Schuld auf sich, eigentlich gleich mehrere, denn sie lässt es auch geschehen, dass Adèle gemobbt wird, danach, nach der Minenexplosion ist sie es, die den Plan ausheckt, alles zu vertuschen, kein Wort darf darüber gesprochen werden, was da vorgefallen ist; später ist auch sie diejenige die Bibi, eine andere Schwester zu einer Abtreibung zwingt. Alles nur um die Familie zu retten, einen Zusammenhalt aufrecht zu erhalten, den es so eigentlich nicht mehr gibt, untergegangen im Staub der Explosion. Oder Tim, er war Geronimos rechte Hand, weshalb ließ er es geschehen? Angèle war auch seine Schwester. Weshalb hat niemand diesem Kind beigestanden? Wieso machen alle mit, beim Familienmobbing? In den letzten Zeilen des Buches erfahren wir, weshalb Adèle so gehandelt hat, aber wir erfahren nicht, warum Eltern und 20 Geschwister ein Kind zu solch einer Verzweiflungstat treiben können.
Fazit: Was der Insel Verlag uns hier vorlegt ist ein Meisterwerk der Romancierkunst. Auch wenn nicht alle Fragen beantwortet werden, das Buch ist ja kein Krimi, so ist es dennoch ein unglaublich guter und faszinierender Roman. Gute Literatur muss nicht alle Fragen beantworten, sie muss zum Nachdenken anregen, sie muss den Leser auch nach dem letzten Satz noch begleiten. Und genau das tut Saucier hier.