Matze, Zink und das ganze Leben

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
soleil Avatar

Von

Inhalt
Kanada in den Fünfziger und Sechziger Jahren. Matze oder Denis, wie er richtig heißt, ist das jüngste von einundzwanzig Kindern, etwas schmächtiger als die anderen, aber nicht weniger Cardinal. Ein Name, der im kleinen Ort, aus dem jeder, der es sich leisten kann, fortzieht – obwohl er einst das Zentrum von allem war mit einer funktionierenden Mine und mehreren Schulen, die zu füllen nur noch gelingt, wenn die Landeier von außerhalb eingefahren werden – wohlbekannt ist. Landeier sind die Cardinals aus eigener Sicht bestimmt nicht, sie sind mehr und beweisen es im Erwachsenenleben durch viele wechselhafte Biografien. Matze nun hat es nach vielen Jahren geschafft, die Geschwister alle anlässlich einer Preisverleihung für den Vater an einen Ort zu bringen. Wirklich glücklich darüber wirken aber die wenigsten. Nur warum?


Meinung
Ein Buch, das äußerlich unheimlich schlicht wirkt und an dem ich beinahe vorbeigegangen wäre, hätte ich nicht etwas Zeit überbrücken müssen, in der ich die Leseprobe las. Ich war gleich Feuer und Flamme. Saucier hat eine eigentümliche Art, den Leser sofort in den Bann zu ziehen und nicht mehr loszulassen, was auch die Übersetzung fabelhaft wiedergegeben hat.
Matze ist der Jüngste aus einer wahren Flut an Kindern, die in wirtschaftlich schweren Zeiten in einem sehr vernachlässigten Ort leben müssen, sich allerdings eine ganz eigene Wirklichkeit erschaffen. Sie geben sich selbst Namen von Berühmtheiten wie Jeanne d’Arc oder Geronimo und halten zusammen wie Pech und Schwefel. Dann findet der Vater, der Gesteinsproben in den Claims und Minen untersucht, Zink in einer davon und seine Kinder sind davon überzeugt, man habe ihn im Zuge dessen betrogen. Sie, die glaubten, gemeinsam gegen den Rest der Welt zu stehen – und ein Stück weit oben drüber –, müssen sich etwas einfallen lassen. Niemand soll sich je zwischen sie drängen. Aber was ist, wenn einer von ihnen aus der Schar heraussticht? Einen eigenen, anderen Weg gehen möchte, aber trotzdem dazugehören? Es dauert Jahre, bis das Familiengeheimnis sie nicht mehr zerbricht und bis dahin erzählen verschiedene Geschwister je Kapitel in der Ich-Form ihre Sicht der Ereignisse, die dazu führten, dass sich die Familie in alle Winde zerstreute. Dabei hat die Autorin jedem auch eine eigene Stimme gegeben. Es wirkt wie die verschiedenen Facetten eines Diamanten, die sich erst zusammensetzen müssen, um zu genau einem solchen zu werden. Gegen Ende zieht es sich leider ganz kurz ein wenig, wenn das, was der Leser kennt, zum vierten Mal erzählt und nur eine Winzigkeit hinzugedichtet wird. Dann aber nimmt die Handlung wieder Fahrt auf und entlässt in ein sehr emotionales, wenn auch nicht ganz überraschendes Ende.
Eine Familiengeschichte der anderen Art, die die Zeit und die Umgebung beinahe lebensecht vor den Augen entstehen lassen. Und obwohl das Leben hart und schlicht war – man schlief einfach in dem Bett, das gerade frei war, prügelte sich um den Platz vor dem Fernseher oder um die guten Schuhe – haben es alle Kinder geschafft, etwas aus sich zu machen. Nur die Trauer tragen sie mit sich herum, davon überzeugt, die Lüge aufrechterhalten zu müssen, um die anderen, vor allem die Mutter und Matze, zu beschützen. Das Buch ist keine Anklage, erhebt keinen Zeigefinger, es erzählt eine spannende, emotionale und sehr gut lesbare Geschichte, die in viel zu kurzer Zeit ausgelesen ist. „Niemals ohne sie“ ist sicher nicht das letzte Buch, das ich von Jocelyne Saucier gelesen haben werde.