Wilde Herzen, tiefer Schmerz

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amara5 Avatar

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"Niemals ohne sie" von Jocelyne Saucier erscheint fast 20 Jahre nach der kanadischen Erstveröffentlichung im Insel Verlag und ist rund 250 Seiten lang.

Die Cardinals wachsen unter rohen Bedingungen im ländlichen Québec in einer kleinen Minenstadt namens Norco auf - und sind keine gewöhnliche Familie, denn zusammen sind sie stolze 21 Kinder und ihr Vater sucht unermüdlich nach Zink. Da gibt es Dutzend Eier am Morgen, hundert Pfund Kartoffeln im Keller, Dynamit-Sprengungen an Geburtstagen, morgendliche Kämpfe um Stiefel und abendliche Kämpfe um einen Platz auf dem Sofa und überhaupt allerlei Widerstand und Kämpfe mit der Welt außen ("Wenn die Cardinals ihren Auftritt hatten, nahmen alle Reißaus. (...) In Norco waren wir die Kings.") und innerhalb der Familie, wenn die Familien-Loyalität in Gefahr gerät. Und so passiert eine Tragödie, als ein paar Cardinals beschließen, die Mine zu sprengen, als diese geschlossen werden soll und sie sich um ihr Geld betrogen fühlen.

Darum dreht sich im Kern der Roman von Saucier: die Komplexität von Identität, Loyalität, Verrat und einer vermeintlichen Lüge rund um Angèle Cardinal ("die einzige Cardinal mit einer Vorliebe für das Glück.") die bei dem Erzsucher-Kongress fehlt, wenn sich nach 30 Jahren alle anderen Familienmitglieder des Klans wiedersehen und sich dort ein tief vergrabener Schmerz der Familienseele an die Oberfläche drängt. ("Die Familie ist eine Begegnung mit dem, was man am tiefsten in sich vergraben hat.") Welche Dynamik innerhalb der Cardinals hat einzelne Kinder gebrochen oder miteinander verbunden?

Es kommen mehrere Cardinal-Kinder zu Wort und erzählen die Ereignisse und ihre vergrabenen Gefühle aus ihrer Wahrnehmung und Erinnerung heraus - so entfaltet sich die Geschichte aus verschiedenen Blickwinkeln und in einer atemberaubend poetischen Sprache und einem dringlichen Sog nimmt Saucier den Leser mit in das Innerste der Seele und der Mine. Am Ende des Buches schwingen die Charaktere (die nicht unbedingt liebenswert, sondern jeder sehr eigen ist) noch lange nach.

Ich denke, dass einige lyrische Anteile des französischen Originals und der sehr treffende Originaltitel in der Übersetzung verloren gegangen sind - trotzdem ist diese Übersetzung sehr gelungen und Jocelyne Saucier nach "Ein Leben mehr" wieder ein herausragender Roman, von dem man noch sprechen wird.