Eine Dreiecksbeziehung

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anni1609 Avatar

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Reiner Nilowsky lebt etwas außerhalb vom Berliner Stadtzentrum, in der Nähe eines Chemiewerks, in einer eher heruntergekommenen Wohngegend. Sein Vater ist Kneipenwirt vom „Bahndamm-Eck“ und regelmäßig betrunken. Nilowsky lebt eher in den Tag hinein und lernt eines Tages Markus Bäcker kennen, der vom Prenzlauer Berg mit seinen Eltern zugezogen ist. Schnell baut er zu Markus Kontakt auf und versucht sich mit diesem anzufreunden. Er weiht ihn in seine Geheimnisse des Lebens ein, verbringt mit ihm Nachmittage neben den Bahngleisen und stellt ihm Bekannte vor, zumeist ältere alleinstehende Damen. Auch mit den Mozambiquanern, die als Gastarbeiter im Chemiewerk tätig sind, macht Nilowsky Markus bekannt.
Schnell macht er zudem klar, dass er später einmal Carola, ein 17-jähriges Mädchen, das neben seiner Großmutter wohnt, ehelichen möchte. Problematisch wird dieses Wissen für Markus allerdings erst, als auch er Gefühle für Carola entwickelt.
Nach kurzer Zeit zieht Markus erneut mit seinen Eltern um, weg vom „Bahndamm-Eck“ und der verruchten Gegend. Der enge Kontakt zu Nilowsky und Carola wird geringer, aber nach einiger Zeit holt ihn die Vergangenheit ein.

Der Roman „Nilowsky“ von Torsten Schulz hat mich während des Lesens häufiger verwirrt und teilweise abgeschreckt.

Torsten Schulz zeichnet seinen Protagonisten Nilowsky wahnsinnig authentisch. Der Leser nimmt ihn von der ersten Sekunde als waschechten Berliner, Angehörigen der Unterschicht und Opfer seiner Ursprungsfamilie wahr. Nilowsky spricht ausschließlich in tiefstem berlinerischen Dialekt und wirkt durch ständige Wiederholungen seines eigens Gesprochenen etwas dümmlich. Bereits durch erste Beschreibungen von Nilowsky durch den Autor, hat der Leser direkt ein Bild vor Augen vom Protagonisten. Sein Handeln ist für den Leser stets nachvollziehbar, auf der Basis des Bildes, das sich der Leser von ihm machen kann.
Markus wird vom Autor als klischeehafter Gegencharakter dargestellt. Er ist Einzelkind einer gut bürgerlichen Familie und hat uneingeschränkten Zugang zur Bildung. Er empfindet für die gemeinsamen Aktivitäten mit Nilowsky überwiegend Neugierde und möchte vor allem nicht als Schwächling dastehen. Im Gegensatz zu Nilowsky hat er die Möglichkeit, seinen weiteren Werdegang selbstständig bestimmen zu können.
Carola ist ein 17-jähriges Mädchen, das beschlossen hat, nicht älter als 13 sein zu wollen. Carola gibt sich unabhängig und wahnsinnig tough, ist in ihrem Inneren aber eher unsicher. Sie ist Tochter von sozialistischen Eltern, überbehütet und befindet sich am Beginn der Revolution gegen die Eltern.

Die Handlung verläuft zeitlich chronologisch und wird aus Sicht von Markus in der 3. Person wiedergegeben. Für den Leser ist stet nachvollziehbar, welche Person spricht und an welchem Ort die Handlung aktuell spielt. Im Laufe des Romans werden die Zeitsprünge stets größer. In etwa die erste Hälfte des Buches spielt sich innerhalb eines Jahres ab, anschließend vergehen manchmal mehrere Jahre zwischen zwei Kapiteln.
Die Kapitellängen waren in meinen Augen angenehm kurz. Es war stets möglich, eine Lesepause einzubauen. Außerdem wollte ich als Leser auch immer gern wissen, wie die Handlung weiter verlaufen wird.
Schockiert hat mich zeitweise die derbe Sprachwahl. Besonders Nilowsky und Carola sprachen häufig über „Schwänze“, „Geilheit“ und dergleichen. Diese Ausdrücke unterstrichen natürlich auch das Bild, dass sich der Leser von ihnen bereits gemacht hat, also das eines Unterschichtmilieus-Angehörigen.
Die Satzlängen waren kurz bis abgehakt. Auf verschachtelte Sätze hat der Autor gänzlich verzichtet, was sicher auch zum besseren Verständnis führt.
Der Roman war flüssig zu lesen, auch wenn ich ab und zu das Gefühl einer Inhaltslosigkeit hatte. Der Schreibstil des Autors war brillant.

Der Autor lässt in seinem Roman auch die politische Ordnung zur damaligen Zeit nicht außen vor. Die DDR und die regierenden Parteien werden häufiger während der Handlung erwähnt und kritisch beleuchtet. Ebenso nimmt er das Thema Gastarbeiter auf, die zur damaligen Zeit wohl noch eher eine Ausnahme gewesen sind.
Mit seinem Roman verdeutlicht Torsten Schulz meiner Meinung nach die schon damalige große Diskrepanz zwischen den verschiedenen Gesellschaftsschichten. Er zeigt auf, dass eine Freundschaft über die Schichten hinaus kaum eine Chance hat. Zudem prangert er meiner Meinung nach die geringen Entwicklungsmöglichkeiten für Kinder, die der Unterschicht entstammen, an.

„Nilowsky“ von Torsten Schulz ist in gebundener Form erschienen und verfügt zudem über einen Umschlag. Das Cover des Romans ist in meinen Augen sehr gut gewählt, erklärt sich dem Leser allerdings erst im Laufe der Handlung. Das Buch ist enorm hochwertig gestaltet, die Seiten sind ein wenig verstärkt und fassen sich sehr gut an. Der Leser erhält eine Zugabe in Form eines Lesezeichens, das auf einer Seite das Cover erneut abbildet und auf der anderen Seite kurz die wichtigsten Charaktere aufzählt, mit einigen auffälligen Merkmalen.

„Nilowsky“ hat mich hin und her gerissen. Besonders geschockt war ich wohl von der Tatsache, dass der Autor zuvor geäußert hat, er habe unbedingt einen Bruder haben wollen und deshalb Nilowsky erschaffen. Das hat mich schockiert, vor allem nachdem ich einige Seiten des Buches gelesen hatte. Es kann meiner Meinung nach nicht erstrebenswert sein, einen Bruder zu haben, der ständig säuft, sich ordinär ausdrückt, in den Tag hinein lebt und am liebsten Menschen töten würde, die ihm nicht in den Kram passen. Mit dieser Information vom Autor vorbelastet, habe ich den Roman begonnen zu lesen und war doch schnell perplex.
Eigentlich ist das Buch sicher sehr wertvoll, vor allem auf dem Hintergrund der Gesellschaftskritik. Ab und zu war ich allerdings nur genervt von dem vielen Berlinerischen.
Der Roman ist keine leichte Kost, dafür aber schnell lesbar.
Schwierig ist für mich, diesen Roman jemandem weiterzuempfehlen, da ich aktuell nicht einschätzen kann, für welche Menschen er von Interesse sein könnte.
Somit von meiner Seite eine eingeschränkte Leseempfehlung.