Nilowskys Traum

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timphilipp Avatar

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Die Geschichte beleuchtet das Thema Freundschaft und Liebe auf ungewöhnliche Weise.

Für den Protagonisten Markus Bäcker werden nur fünf Monate in seiner Jugend prägend für die ersten Jahre seines Erwachsenenlebens. Im Jahr 1976 zieht Markus – 14jährig – mit seinen Eltern in eine trostlose Gegend nahe einem Chemiewerk und Bahndamm in Ost-Berlin. Dort begegnet er dem drei Jahre älteren Reiner Nilowsky, den Sohn des stets betrunkenen, aggressiven, von Reiner abgrundtief gehassten Wirtes einer Eckkneipe. Reiner ist sehr merkwürdig: Einerseits spricht er anders in knappen, abgehackten, wortwiederholenden Sätzen, andererseits ist er in der Lage, besondere Theorien zu chemischen Vorgängen und die sozialistische Revolution zu entwickeln und Zugverbindungen auswendig wiederzugeben. Er scheint in einer anderen Welt zu leben.

Zwischen Markus und Reiner entwickelt sich eine Freundschaft, wenn es sich denn überhaupt um eine solche handelt und nicht um ein Abhängigkeitsverhältnis von Markus zu Reiner. Oder würde ein wahrer Freund als Vertrauensbeweis verlangen, dass Markus bei Minustemperaturen mit seiner Zunge die Bahnschienen berührt oder ihn mit dem Tode bedrohen, sofern Markus verrät, dass Reiner Carola als seine Braut ansieht? Gegen das Bestehen einer wahren Freundschaft spricht auch, dass Reiner mehrfach Ekel bei Markus hervorruft (z.B. durch das Urinieren auf seine angefrorene Zunge oder eine Woodoo-Prozedur mit einem ausgebluteten Huhn). Auch Reiner selbst scheint die Freundschaft in Zweifel zu ziehen, spricht er doch von Reiner immer nur unter Benutzung dessen Nachnamens Nilowsky, was distanziert wirkt.

Zwischen Markus und Reiner steht die 17jährige Carola, in der Reiner ganz selbstverständlich und besitzergreifend seine Braut sieht, obwohl Carola eine Liebesbeziehung gar nicht will und beschlossen hat, nicht älter als dreizehn zu werden. In Markus erwachen sexuelle Gefühle für Carola, die er aus Verbundenheit zu Reiner aber nicht zulassen will. Markus gerät in Loyalitätskonflikte, weil ihm sowohl Carola als auch Reiner Geheimnisse anvertrauen.

Nach Fortzug zieht es Markus immer wieder in die Bahndammgegend; er kommt von Carola und Reiner nicht los. Beide sieht er in den Folgejahren nur sporadisch. Welche Entwicklung wird wohl die Beziehung der Drei nehmen?

Eine ganz wunderbare Erzählung, die mich über ihre gesamte Länge (5 CD’s = 367 Minuten) nicht mehr losgelassen hat.

Alle Figuren sind so unterschiedliche, größtenteils skurrile Charaktere, die man nur liebenswürdig finden kann. Mit Ausnahme vielleicht von Nilowsky, der mir autistische Züge aufzuweisen scheint und seinem Vater im Lauf der Zeit immer ähnlicher wird.

Sebastian Zimmler als Leser bringt die Charaktere sehr sympathisch rüber. Seinem Vortrag lässt sich sehr gut folgen. Es stört keineswegs, dass er sämtliche Figuren, egal ob jung oder alt, Weiblein oder Männlein, alleine liest. Der Personenwechsel ist stets gut zu erkennen. Auch dass er einige Figuren „berlinern“ lässt, trägt zur Natürlichkeit der Personen bei.

Obwohl die Geschichte in den 70er und 80er Jahren in Ost-Berlin spielt, ist sie bis auf wenige Nebenschauplätze (Weinbrandarten Melde-Korn und Goldbrand, afrikanischer Bruderstaat Mozambique) nicht DDR-typisch. Sie hätte ebenso gut anderenorts angesiedelt sein können. Interessant ist, dass die Geschichte ein Jahr vor dem Mauerfall endet und zeitgleich endlich Markus „freies“, von Nilowsky losgelöstes Leben beginnt.

Das Cover passt gut zu der Geschichte. Es stellt den Schienenstrang am Bahndamm dar, den Lieblingsaufenthaltsort von Nilowsky. Das Huhn ist sicherlich das bei der Woodoo-Zauberei verwendete Tier.

Das Hörbuch kann ich uneingeschränkt empfehlen.