Alltag von 5 Freunden im Berlin der Weimarer Republik

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schneeglöckchen_gk Avatar

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Inhalt: Der neue Roman von Ulrike Schweikert erzählt vom Alltag im Berlin der 20er Jahre. Die Leser begleiten die fünf Freunde Luise, Ilse, Ella, Robert und Johannes durch die Wirren der Nachkriegsjahre. Alle fünf sind durch ihre gemeinsame Kindheit in Charlottenburg verbunden. Nach dem Krieg heiratet Robert Luise, sein Konkurrent Johannes wurde in Frankreich schwer verwundet und kehrt erst später nach Berlin zurück. Ella aus dem Hinterhaus hat mit ganz anderen Problemen zu kämpfen als die aufgeweckte Ilse aus dem Vorderhaus, die in illustren Kreisen verkehrt. Jeder für sich und alle zusammen stehen exemplarisch für viele Themen (wie z.B. Inflation, Kriegsveteranen, Frauenbild in der Ehe, Drogen & Kriminalität, etc.) der damaligen Zeit und bieten einen Blick in die damalige Lebenswelt.

Dabei wird kein gesellschaftliches/soziales/politisches Thema von der Autorin ausgelassen. Anfangs mochte ich diese Vielfalt, der politische/historische Kontext war angenehm mit der Handlung verwoben, sodass man ganz nebenbei etwas über die damalige Zeit gelernt hat. Zunehmend gab es dann aber Passagen im belehrenden Ton einer Geschichtsstunde, die nur noch notdürftig mit dem Roman verbunden waren. Außerdem drohte die Beschreibung der Problematiken stellenweise ins klischeehafte abzurutschen. An vielen Stellen hat die Autorin gezeigt, dass sie sehr viel Wissen über die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen gesammelt hat. Dabei verliert sie sich beim Versuch alles unterzubringen aber in endlosen Details. Hier wäre weniger definitiv mehr gewesen.

Leider dreht sich der Roman auch nicht so explizit um den Bahnhof Friedrichstraße wie der Klappentext das suggeriert. Zwar spielt der Bahnhof immer wieder eine mal größere, mal kleinere Rolle und wird regelmäßig erwähnt, es gibt aber sehr viele weitere Schauplätze drumherum. Auch bei den Figuren hat mir eine klare Hauptperson gefehlt. Dadurch, dass hauptsächlich der Alltag nacherzählt wurde und innere Veränderungen nur teilweise besprochen wurden, habe ich keine intensive emotionale Bindung zu den Charakteren aufgebaut und sie blieben oft diffus.


Schreibstil & Aufbau: Der Schreibstil der Autorin war angenehm zu lesen und ich bin sehr flott durch den Roman durchgekommen, trotzdem sticht der Stil nicht heraus bzw. löst keine größere Begeisterung bei mir aus. Das für einige Personen verwendete Berlinerisch ist nur teilweise gelungen und hat mich mehrmals stocken lassen. Ausgebremst wurde ich teilweise auch durch den Aufbau der Kapitel, da die großen Kapitel nochmal in Unterabschnitte aufgeteilt sind. Zwischen diesen Abschnitten gibt es häufig Sprünge in der Zeit oder auch zwischen den Perspektiven der einzelnen Personen. Nicht selten musste man sich hier erstmal wieder zurechtfinden. Dies lag sicherlich auch daran, dass teilweise Szenen ohne vorherigen Zusammenhang eingeleitet wurden und Situationen ebenso abrupt beendet wurden. Hier hätte ich mir, auch im Angesicht des oben bereits erwähnten Detailreichtums, einen klareren roten Faden gewünscht.

Daran schließt sich der Wunsch nach einem deutlicheren Spannungsbogen an. Dieser Hauptstrang fehlt im Mittelteil komplett. Ich bin zwar trotzdem gut durchgekommen, kann aber nachvollziehen, dass es Leser gibt, die zwischen den unzähligen Einschüben, Themen und Nebenschauplätzen versanden und die Lust an der Lektüre verlieren. Die völlig überraschende und überdramatische Wendung zum Schluss konnte diesen Eindruck nicht verändern und war für mich nicht stimmig.


Cover & Aufmachung: Das Cover liegt durch die goldene Schrift und die Prägung hübsch in der Hand, ist ansonsten vom Design her aber eher schlicht und simpel und in meinen Augen kein besonderer Hingucker. Wen die abgebildete Frau auf dem Titelbild darstellen soll hat sich mir bis zum Ende nicht erschlossen, was auch zeigt, wie irreführend dieses Portrait ist. Es wird suggeriert es gäbe eine weibliche Hauptperson im Roman, doch das ist in dieser Eindeutigkeit nicht der Fall. Auch worauf sich der Titel bezieht war für mich nicht erkennbar.

Mit rund 500 Seiten ist dieses großformatige Taschenbuch ein ziemlicher Schmöker, dessen Seiten allerdings in recht kleiner Schrift und dafür mit umso größerem Seitenrand bedruckt sind. Gut gefallen hat mir die im Umschlag abgedruckte Stadtkarte von Berlin, dadurch konnten die Handlungsorte gut nachvollzogen werden. Hilfreich sicher auch für Leser, die über keine Ortskenntnis in Berlin verfügen.


Fazit: Der Roman „Novembersturm“ ist hinter meinen Erwartungen zurückgeblieben. Der Bahnhof Friedrichstraße steht nicht so im Zentrum, wie der Klappentext suggeriert und die vielversprechenden Charaktere gehen leider in unzähligen Details und weitestgehend spannungsfreien Alltäglichkeiten unter. Bietet trotzdem guten Unterhaltungswert und vermittelt zahlreiche Kenntnisse über die Lebensrealität im Berlin der 1920er Jahre.

Abschließend kann ich sagen, dass mir die beiden Teile der Charité-Reihe besser gefallen haben. Hier habe ich eine deutlich intensivere Bindung zu den Charakteren aufgebaut, die Handlung war klarer auf die Charité konzentriert, man bekam einen umfassenden Einblick in diese Institution und hat gleichzeitig das alltägliche Leben der Menschen in Berlin kennengelernt. Auf den zweiten Teil dieser neuen Serie bin ich trotzdem gespannt. Auch wenn Titel und Klappentext bereits auf einen größeren zeitlichen Sprung hindeuten und neue Protagonisten ankündigen, erhoffe ich mir, dass „Tränenpalast“ mehr direkten Bezug zum Bahnhof Friedrichstraße enthält und gewohnt lebhaft die nächste Nachkriegszeit schildert.

Allen, die sich wirklich für eine „Familiensaga“ interessieren, die auch die Zeiten während der beiden Weltkriege abdeckt, die Protagonisten kontinuierlich weiterführt und ebenfalls Einblicke in Zeitgeschehen, Politik und familiären Alltag gibt, kann ich die Jahrhundert-Saga, beginnend mit „Mondjahre“ von Eva-Maria Bast empfehlen.