Mysterium Familie

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marapaya Avatar

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Familie ist ein Mysterium. Man kann nicht mit, aber auch nicht so richtig ohne sie. Während der Kindheit bekommt man eine Position innerhalb des Familiengefüges zugewiesen und versteht erst als Erwachsener, welche Konsequenzen diese möglicherweise nach sich zieht. Versucht man die Position zu verändern, bricht plötzlich das ganze schöne fragile Familiengerüst auseinander. Meist mündet es in dem Satz von der lieben Familie: „Was ist denn plötzlich mit dir los? Du bist doch sonst nicht so.“
Timna und Babi haben es nicht leicht mit ihrem Vater Otto. Er ist nicht mehr bei bester Gesundheit, lag über Monate im Krankenhaus und die Schwestern haben mehr als einmal gedacht, dass er dieses nicht mehr lebend verlassen wird. Doch Otto ist ein Sturkopf und die leben bekanntlich länger.
Der Verlag preist das Debüt von Dana von Suffrin auf dem Buchdeckel „als Geschichte vom unbedingten Familienzusammenhalt“ an. „Klug, liebevoll und mit sehr viel schwarzem Humor.“ Im Klappentext wird dieser Satz noch fortgeführt „Klug, liebevoll und mit sehr viel schwarzem Humor erzählt Dana von Suffrin, wie Timna versucht, ihre dysfunktionale Familie zusammenzuhalten, ohne selbst vor die Hunde zu gehen.“ Dieser Satz beschreibt für mich den Kerninhalt des Romans. Timna ist die Erzählerin ihrer Familiengeschichte. Sie scheint klug zu sein, hat einen Doktortitel, wahrscheinlich in irgendeinem geisteswissenschaftlichen Fachbereich, das wird nicht so ganz klar. Doch sonst scheint es ihr an beruflichem Ehrgeiz zu mangeln. Der pflegebedürftige Vater und die überforderte kleine Schwester verlangen ihre gesamte Aufmerksamkeit und so gibt die chaotisch wirkende Aufzählung von Familienanekdoten wohl auch das innere Stimmungsbild von Timna wieder. Nach und nach enthüllt sich eine Familiengeschichte, die bis in die vierte Generation nach Ungarn und Siebenbürgen zurückgeht. In der die Weltkriege und der Holocaust deutliche Spuren hinterließen, die jüdische Familie väterlicherseits in Israel neue Wurzeln schlug und Otto schließlich Israel und seiner ersten Frau den Rücken kehrte, um in Deutschland neu anzufangen. Seine neue Liebe war eine junge deutsche Künstlerin, doch geheiratet hat er schließlich die Mutter von Timna und Babi. Ein Fehler, wie sich schnell herausstellen sollte. Die Eltern funktionieren nicht miteinander, das gemeinsame Leben ist chaotisch, oberflächlich, ohne richtige Erziehung, die den Mädchen hätte Halt geben können. Die Trennung der Eltern verschlimmert die Lage, treibt die Mutter in den Alkohol, weitere dysfunktionale Beziehungen folgen. Der Vater hat keine Ahnung, was Fürsorge bedeutet. Timna und Babi sind auf sich allein gestellt, halten zusammen, versuchen füreinander zu sorgen und auch für die Eltern da zu sein. Wie wenig das insgesamt funktioniert, zeigt Dana von Suffrin auf den 230 Seiten ihres Romans. Die Töchter können den starrköpfigen, ichbezogenen, alten Vater nur schwer ernst nehmen – es würde ihnen sonst die Luft zum Atmen fehlen. Ihr Lachen über Otto ist vielmehr Verzweiflung als Humor. Sie verbringen erstaunlich viel Zeit miteinander und haben sich doch nichts wesentliches zu erzählen. Otto wirkt wie ein Fixstern, um den die Mädchen kreisen, ob sie wollen oder nicht. Und dieser Fixstern beginnt zu verlöschen, die Familie mit ihm zu verschwinden.
Timna und Otto sind die einzigen ausgearbeiteten Figuren in dieser Geschichte. Babi, Timnas neuer Freund Tann, die ungarischen Pflegedamen Valli und Ottla sind nur Randfiguren mit etwas Kontur, ohne Tiefe. Und selbst Timna und Otto sind nur schwer zu fassen, wirken nicht wie typische Sympathieträger, nerven mitunter richtig und strahlen vor allem Einsamkeit aus. Timna als Ich-Erzählerin gibt dem Leser nur zwischen den Zeilen zu ihrer Person zu lesen, die Sicht auf den Vater ist stark eingefärbt, kratzt nur an der Oberfläche. So klischeehaft die jüdischen Anekdoten und so unglaubwürdig die Marotten von Otto auch zuweilen wirken, den Familienzusammenhalt nehme ich der Geschichte vollkommen ab. Gerade weil diese Familie so unvollkommen ist. Vielleicht gibt es da draußen die Bilderbuchfamilien, in denen die Familienmitglieder in einem konfliktfreien Umfeld immer liebevoll, respektvoll und ehrlich miteinander umgehen. Doch im echten Leben sind Beziehungen schwierig, auch oder gerade innerhalb der Familie.