4,5 Sterne: Ungewöhnlich, unheimlich, unterhaltsam

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lovely_lila Avatar

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* Spoilerfreie Rezension! *

~ Ein ungewöhnliches, spannendes Jugendbuch, das mit einer sarkastischen Protagonistin, einem angenehmen Erzählstil und einem einzigartigen, unheimlichen Schauplatz punktet. Einen halben Stern Abzug gibt es für kleine Schönheitsfehler. ~

Inhalt

Anouk kann es kaum glauben: Sie wurde tatsächlich gemeinsam mit vier anderen Jugendlichen auserwählt, an einer spannenden Expedition teilzunehmen. Gemeinsam sollen die Teenager einen lange verschütteten Palast erkunden, der zur Zeit der französischen Revolution von einem reichen Adeligen erbaut wurde. Anouk ergreift sofort die Chance, ihrer schwierigen Familie zu entfliehen. Nach der Ankunft in Paris ist jedoch nichts so wie erwartet...

Informationen

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählstil: Ich-Erzähler, Präsens;
Perspektive: aus weiblicher Perspektive
Kapitellänge: kurz bis sehr kurz
Tiere im Buch: + / + Es werde keine Tiere gequält oder getötet.
Anmerkung: 18 Euro für ein Taschenbuch finde ich (trotz tollem Cover) zu teuer, da man um diesen Preis normalerweise schon ein Hardcover bekommt. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es mir selbst um diesen Preis gekauft hätte.

Zitate


„Wenn andere dich haben weinen sehen, ist es, als besäßen sie einen Teil von dir.“ Seite 212

„‘Maman, warum gehen wir nicht hinunter in den Palast? [...] Was hat dich dort so erschreckt?‘
Diesmal antwortete sie. Sie nahm meine Hände in ihre und drückte sie, bis meine Finger knackten. ‚Die Diener‘, flüsterte sie. ‚Sie haben so grausige Gesichter.‘“ Seite 53


Meine Meinung

Einstieg & Schreibstil

Meistens brauche ich einige Seiten, bis ich in eine Geschichte eintauchen kann. Bücher, die mich sofort in ihren Bann ziehen, gibt es wenige. Doch hier ist genau das passiert. Anouks amüsante, freche und sarkastische Erzählweise hat mich sofort begeistert.

Der Schreibstil ist wahnsinnig angenehm und flüssig zu lesen, gespickt mit Weisheiten, sprachlichen Bildern und so mancher Metapher. Das Buch scheint sich beinahe von selber zu lesen, und die Seiten fliegen nur so dahin. Dennoch ist der anschauliche Schreibstil nicht oberflächlich oder zu einfach, sondern liest sich auch für Erwachsene schön. Hier haben wir endlich wieder einmal einen Autor vor uns, der unsere kindliche Neugier weckt, der es durch seine Erzählweise schafft, dass wir gebannt auf die Seiten schauen und darauf warten, dass uns eine tolle Geschichte voll in ihren Bann zieht. Schon nach den ersten Seiten wird klar: Stefan Bachmann hat Talent.

Jedoch scheint sich der Autor bezüglich der Zielgruppe nicht ganz sicher gewesen zu sein. Das Buch wirkt auf Jugendliche zugeschnitten, jedoch werden immer wieder Fremdwörter aus dem Französischen verwendet, die sogar ich teilweise nicht kannte und googlen musste. Dabei spreche ich sogar Französisch. Wörter wie „Antichambre“, „Boudoir“ und „Spinette“ könnten jugendliche Leser frustrieren. Eine kurze Erklärung der Worte hätte in einem Jugendroman doch wirklich nicht wehgetan, oder?

Aufbau

In diesem Buch finden wir etwas, das ich eigentlich nicht besonders mag: Zwei Geschichten, die miteinander verbunden sind, entfalten sich auf unterschiedlichen Zeitebenen. Hier jedoch hat der Autor es geschafft, mich zu überzeugen, weil beide Geschichten absolut spannend und relevant sind, und weil es keine langatmigen Stellen gibt, die die Geschichte künstlich strecken. Als Leserin fiebert man mit beiden Protagonistinnen mit, so entsteht ein „Teufelskreis“, und man blättert und blättert immer weiter.

Protagonist & Personen

Anouk ist eine ungewöhnliche Protagonistin, die sich durch ihre schlechte Meinung vom Menschen ganz allgemein und durch ihre bissigen und sarkastischen Kommentare auszeichnet. Ihre Erzählstimme ist manchmal amüsant, macht manchmal nachdenklich und unterhält die LeserInnen in jeder Situation ausgezeichnet. Anouks Vergangenheit und ihre großen familiären Probleme offenbaren sich nur langsam, immer mehr wächst einem so das kratzbürstige Mädchen ans Herz. Als komplexe Figur erlaubt Stefan Bachmann seiner besonderen Protagonistin schwache Momente und eine glaubwürdige Entwicklung. Wer also genug vom schüchternen, braven Mädchen im Jugendroman hat, wird Anouk als erfrischende Abwechslung wahrnehmen.

Auch die anderen Figuren bekommen Tiefe verliehen, wo es möglich ist. Manche sind sehr detailliert und liebevoll ausgearbeitet, manche (wie Jules und die Bösen) bleiben bis zum Ende eher ungreifbar und blass oder zu eindeutig böse. Man stellt fest, dass sich der Autor manchmal etwas weniger Zeit für die Handlung und etwas mehr Zeit für die Charakterentwicklung nehmen hätte sollen.

Idee, Themen & Spannung

Der Autor hatte eine absolut erfrischende, neue Idee, die er auch gekonnt umsetzt. Der unheimliche Palast und überhaupt die ganze rätselhafte Expedition erwecken in den LeserInnen das dringende Bedürfnis weiterzulesen und die Geheimnisse zu ergründen. Die Beschreibungen des Palastes mit seinen vielen Räumen waren gelungen, dennoch hatte ich das Gefühl, dass bei der Zahl der Salons und Zimmer weniger mehr gewesen wäre. So wirkt das oft seitenlange Durchhetzen durch unzählige Räume etwas überhastet, das Potential und die Atmosphäre des Schauplatzes können dadurch nicht vollkommen ausgeschöpft werden.

Hier wurde sich sichtlich bemüht, einen Jugendroman mit Tiefe zu schaffen. Viele zentrale Themen wie Familie, Liebe, Freundschaft und die Angst vor dem Tode werden angesprochen und teilweise sehr tiefgründig behandelt und reflektiert.

Atmosphäre

Der unterirdische Palast des Adeligen bietet einen einmaligen Schauplatz, der ein unglaubliches Potential hergibt. Über weite Teile des Buches gelingt es Stefan Bachmann auch vorzüglich, die feucht-kühle Enge und Beklemmung der Gänge und Räume zu beschreiben. Immer wieder fühlt man sich, als wäre man selbst dort, meterweit unter der Erde, umgeben von Gefahren.

So gruselig wie ich nach so mancher englischen Rezension erwartet hatte, war der „Palast der Finsternis“ nicht, auch wenn es einige durchaus unheimliche Momente gibt, die zu gefallen wissen. Die Atmosphäre, diese Ungewissheit und die Angst vor dem, was sich in diesem lange verschütteten Palast möglicherweise befinden könnte, machen eine der größten Stärken des Buches aus.

Mein Fazit

Ein ungewöhnliches, spannendes Jugendbuch, das mit einer sarkastischen Protagonistin, einem angenehmen Erzählstil und einem einzigartigen, unheimlichen Schauplatz punktet und mich überzeugen konnte. Einen halben Stern Abzug gibt es für kleine Schönheitsfehler.

Bewertung:

Idee: 5 Sterne
Ausführung: 4,5 Sterne
Themen: 4 Sterne
Schreibstil: 5 Sterne
Personen: 4 Sterne
Hauptperson: 5 Sterne
Spannung: 5 Sterne

Insgesamt:

❀❀❀❀,5

Dieses Buch erhält von mir viereinhalb Sterne!