Que aparezcan con vida

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buecherfan.wit Avatar

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In Carolina De Robertis´ neuem Roman “Perla” geht es um Argentiniens dunkle Vergangenheit in den Jahren der Militärdiktatur (1976-1983). Perla ist Anfang 20 und studiert Psychologie. Sie ist wohlbehütet in einem gutsituierten Elternhaus aufgewachsen, aber mit der Wahl des Studienfachs hat sie zum ersten Mal den geliebten Vater gegen sich aufgebracht. Die Mutter ist eine schöne, elegante Frau, immer sehr distanziert und nicht für die Mutterrolle geschaffen. Der Vater liebt seine Tochter, zeigt nur ihr gegenüber manchmal seine Verletzlichkeit. Er war Offizier bei der Marine zu Zeiten der Junta, eine Tätigkeit über die nicht gesprochen werden darf, genauso wenig wie über die Regimegegner - los desaparecidos - , die spurlos verschwanden. In Perlas Elternhaus wird die Existenz von 30.000 Verschwundenen geleugnet, und Perla wird grundsätzlich von aktuellen Nachrichten abgeschirmt. Sie verliert ihre beste Freundin Romina, deren Onkel zu den Verschwundenen gehören, als diese von dem Beruf von Perlas Vater erfährt. Mit einem fantasievollen Aufsatz der zwölfjährigen Perla über die Verschwundenen, der mit einem Preis bedacht und veröffentlicht wird, zieht sie sich den Zorn des Vaters zu.

Zu Beginn des Romans hat sich Perla gerade nach einem Streit während eines Uruguay-Urlaubs von ihrem Freund Gabriel getrennt, mit dem sie seit vier Jahren glücklich war. Eines Tages findet Perla in Abwesenheit der Eltern einen Unbekannten in der Wohnung vor. Es ist ein nackter Mann, der ständig Wasser verliert und unangenehm nach Fisch und faulen Äpfeln riecht. Zunächst will sie ihn so schnell wie möglich loswerden, aber dann verstehen beide, dass es einen Grund gibt, warum er in Perlas Zuhause aufgetaucht ist und kommen sich näher. Perla begreift, dass sie in einem Haus der Lügen aufgewachsen ist, und der nasse Besucher erinnert sich allmählich, was ihm vor über zwanzig Jahren widerfahren ist. Er ist einer der Verschwundenen, die von den Schergen der Junta eingesperrt, gefoltert und schließlich ermordet worden sind. In den aus seiner Perspektive erzählten Passagen erinnert er sich emotionslos und sehr detailliert, was ihm und allen anderen Gefangenen angetan wurde, auch den weiblichen, auch den schwangeren wie seine Frau Gloria.

Die Anwesenheit des tropfenden Untoten bringt Perla dazu, sich der Rolle ihrer Familie zur Zeit der Diktatur und ihrer eigenen Geschichte zu stellen. Die Ergebnisse ihrer Nachforschungen zwingen sie zu schmerzlichen Entscheidungen, sind aber auch eine neue Chance für sie und ihren Freund Gabriel.

De Robertis´ Roman liest sich gut und ist packend geschrieben, und er bringt auch den Leser dazu, sich mit diesem düsteren Kapitel der argentinischen Geschichte auseinanderzusetzen. Hat man anfangs noch Schwierigkeiten, das Fantasy-Element des nassen Zombies zu akzeptieren, wird seine Rolle im Rahmen der Handlung nachvollziehbar. Dadurch dass die Autorin einem Toten eine Stimme verleiht, macht sie die Fakten zugänglich und mildert in gewissem Maße auch den Schrecken. Im wirklichen Leben kamen die Verschwundenen nicht zurück und konnten keinen Kontakt zu ihren Angehörigen aufnehmen. Die Überlebenden erfuhren meist nicht, was ihren Lieben widerfahren war. Der sehnliche Wunsch der Demonstranten auf der Plaza de Mayo, die unter Lebensgefahr Aufklärung über das Schicksal ihrer Angehörigen verlangten - que aparezcan con vida - mögen sie lebend zurückkehren - blieb unerfüllt.

Der Roman “Perla” ist unbedingt empfehlenswert, aber er ist keine leichte Kost.